Der Transfersommer und vor allem der Verkauf von Angel Di Maria hat Real Madrid die Balance gekostet. Schon wandelt der aktuelle, stets zum Grössenwahn neigende Champions-League-Sieger am Rande der Krise, und alles andere als ein überzeugender Sieg am Dienstag gegen Basel stellt die Alarmstufe auf Dunkelrot. Eine Analyse
Vor dem Spiel läuft im Estadio Santiago Bernabéu seit dieser Saison eine neue Hymne, sie heisst «Hala Madrid y nada más» («Hala Madrid und sonst nichts»), wurde zum Champions-League-Sieg komponiert und trifft ziemlich gut den aktuellen Kern des Vereins: glamourös, bombastisch und immer am Rand zum Grössenwahn.
Nach dem Spiel läuft das beschwingte und noch etwas bescheidenere «Hala Madrid» aus dem früheren 20. Jahrhundert. Es kommt immer gleich nach Schlusspfiff, und es wird laut aufgedreht, aber am Samstag nach der Derbypleite gegen Atlético konnte es das Pfeifkonzert von den Rängen nicht übertönen.
Die Stimmung ist miserabel nach nur drei Punkten aus drei Ligaspielen (Platz 13 in der Tabelle), dem verlorenen spanischen Supercup und dem Verkauf von Schlüsselspielern.
Erfahrungsgemäss wird die Sportpresse den Fans bis zum Anpfiff der Champions League gegen den FC Basel noch ins Gewissen schreiben, dass die Mannschaft jetzt mehr denn je ihre Unterstützung brauche. Aber wer am Dienstag wirklich gegen das Publikum spielt, ist noch nicht ausgemacht.
Nur ein überzeugender Sieg gegen Basel zählt
Die Partie gegen den Schweizer Serienmeister hat für Real durch die jüngsten Ereignisse transzendentale Bedeutung erhalten. Alles andere als ein Sieg des Titelverteidigers würde die Alarmstufe auf Dunkelrot erhöhen. Alles andere als ein überzeugender Sieg die Zweifel weiter befördern.
Florentino Pérez, der Präsident, hat im Sommer wieder seiner Lieblingsbeschäftigung gefrönt und Spieler nach seinem Gusto verpflichtet: die WM-Stars James Rodríguez und Toni Kroos.
Zwei Spieler hingegen, die dem Trainer sehr wichtig waren, Xabi Alonso und Ángel Di María, wurden fahrlässig respektive sogar vorsätzlich ziehen gelassen. Der «Marca»-Kolumnist Roberto Palomar schreibt von einer «Wegwerf-Kultur», die den Verein erfasst habe.
«Wenn Real Madrid mal keine Nöte hat, erfindet es welche», kritisiert der renommierte Berichterstatter Santiago Segurola in «Marca» und bezieht sich damit auch auf den Verkauf von Alonso. Bei dem Basken liefen in den letzten Jahren die Fäden zusammen, er hielt die Position vor der Abwehr, er war der Leuchtturm.
Besonders wichtig war seine Fähigkeit, Lücken zu antizipieren, sich im richtigen Moment zwischen die Innenverteidiger fallen zu lassen. Alonso war quasi die Ein-Mann-Eingreiftruppe für Notfälle, und die gibt es bei Real angesichts der vielen Offensivstars immer.
Weltmeister Toni Kroos und der Zwiespalt
Statt Alonso spielt nun Toni Kroos auf der Sechser-Position, für die er in Deutschland immer als eher ungeeignet galt, weil ihm dafür die defensive Disziplin fehlte. Von der spanischen Presse wird dem deutschen Weltmeister eine Mitschuld an drei der sechs Gegentreffer von Real bei den jüngsten Niederlagen in San Sebastián (2:4) und gegen Atlético (1:2) zugeschrieben, bei denen jeweils aufrückende Mittelfeldspieler des Gegners trafen, ohne von Madrids Abfangjäger bei ihren Torversuchen begleitet worden zu sein.
Dennoch gehört Kroos bisher eher zu den Gewinnern der noch jungen Saison, so beeindruckend sind seine Passpräzision und Handlungsschnelligkeit im Aufbauspiel. Wenige Mittelfeldspieler können so instinktiv erahnen, wann Ronaldo sich einen kleinen Freiraum verschafft und Reals Superstar dann so mustergültig bedienen wie Kroos gegen Atlético.
Effektheischend – das Urteil über WM-Held James Rodriguez
Wo dem Deutschen zugebilligt wird, die noch fehlenden Aspekte seiner neuen Rolle eines Tages vielleicht zu verinnerlichen, wird James Rodríguez bislang kein ähnlich wohlwollendes Zeugnis ausgestellt. Der Kolumbianer muss mehr oder weniger den Posten von Di María übernehmen, obwohl er ein ganz anderer Spielertyp ist: eher eine klassische Zehn, die alles mit dem Fuss regelt, als ein hyperaktiver Allrounder, der das auch mit den Beinen macht.
Gegen Atlético bemühte sich James sichtlich um Aktionsradius und Giftigkeit. Aber das harmonierte noch nicht so recht mit dem Teamspiel. «Eher effektheischend als effektiv», fand «El País» sein Spiel.
Den (offensiven) Part von Di María gab daher Cristiano Ronaldo höchstpersönlich; er liess sich so weit zurückfallen, wie man das selten gesehen hat, und glänzte mehr durch Vorlagen als durch eigene Torabschlüsse – ein Zeichen dafür, dass er verstanden hatte, was die Mannschaft brauchte.
Sein starker Auftritt wurde jedoch von schwachen Darbietungen der Angriffskollegen Karim Benzema und Gareth Bale begleitet; beide wurden ausgewechselt. Ronaldo war am Ende so frustriert, dass er sich zu einem – nicht geahndeten – Ellbogenstoss gegen Atlético-Verteidiger João Miranda hinreissen liess.
«90 Minuti in Bernabéu son molto longo» – fragt sich nur, wer am Dienstag wie lange leiden wird.
Eine sehr gute halbe Stunde spielte Real am Samstag, zwischen der 15. und 45. Minute. Mit solchen Phasen ist immer zu rechnen, San Sebastián lag sogar nach zehn Minuten schon 0:2 zurück.
Aber so zuverlässig wie die Klasse der Madrilenen ist in dieser Saison bislang auch ihre Unfähigkeit, ein Spiel von Anfang bis Ende zu kontrollieren. Wie zudem ihre Anfälligkeit nach hohen Bällen, insbesondere bei Standardsituationen. Insgesamt bedeuten die sechs Gegentore nach drei Spieltagen in der Liga einen so schlechten Wert wie seit der Saison 1995/96 nicht mehr.
Angesichts dieser Gemengelage wird der FC Basel in Madrid keineswegs als Kanonenfutter angesehen, zumal seine Heldenstücke gegen Chelsea aus der Vorsaison noch in bester Erinnerung sind. Der Ernst, mit dem Real die Partie notgedrungen angehen muss, könnte für die Schweizer zum Vorteil werden, wenn er sich in Verkrampfung verwandeln sollte.
«90 minuti in Bernabéu son molto longo», drohte Real-Kämpfer Juanito einst Inter Mailand in einem berühmt gewordenen Satz auf Spanitalienisch. Momentan könnte sich die Leidenszeit für Besucher womöglich ein bisschen kürzer, für die Heimmannschaft dafür umso länger anfühlen.
Fest steht derzeit nur eines: Am Ende kommt auf jeden Fall die Hymne.
Neben «Marca» ist «As» eine der beiden grossen madrilenischen Sportzeitungen, und hier wurde der FC Basel am Montag als «Riesentöter von Europa» in der spanischen Hauptstadt begrüsst.
Riesentöter, «matagigantes», sind in Spanien der klassische Begriff für Teams mit Überraschungen in ihrer Geschichte.
Sehr kompetent wird bis ins Jahr 1969 zurückgegangen, als der FCB Celtic Glasgow in Basel ein 0:0 abtrotzte, und auch 1971 wird thematisiert, als der FC Basel in der ersten Runde des Uefa-Cup im St.-Jakob-Stadion 1:2 gegen Real Madrid unterlag und im Rückspiel durch ein Tor von Ottmar Hitzfeld lange ein 1:1 hielt, ehe schliesslich Real auch dieses Spiel 2:1 gewann.
An diese Tradition, so «As», werde jetzt im neuen Jahrtausend wieder angeknüpft – vom 2:1 gegen Juventus 2002/03 bis zu den Siegen gegen Chelsea in der vergangenen Saison.