Der Kampf mit den Wilden

Feiernd fordert die junge Generation mehr Freiraum. Und die Alten reagieren, als hätten sie es mit primitiven Wilden zu tun. Ein Fehler.

Die Wilden: Früher verbreitete ein fremdes Volk wie die Hunnen Angst und Schrecken, heute die eigene Jugend. (Bild: akg-images)

Feiernd fordert die junge Generation mehr Freiraum. Und die Alten reagieren, als hätten sie es mit primitiven Wilden zu tun. Ein Fehler.

Samstagnacht, 22.45 Uhr: Hunderte dunkler Gestalten strömen auf das nt/Areal, den stillgelegten Güterbahnhof der Deutschen Bahn. In geklauten Einkaufswägeli ist alles dabei, was es für eine «Sauvage» braucht: Getränke, Plat­tenspieler, Laptop, Mischpult, Boxen. In wenigen Minuten werden unzählige Bars zusammengebastelt. Danach brechen Vermummte die Türe einer stillgelegten Lagerhalle auf. Die Masse jubelt. Nun ist das Party-Reich erobert. Überall wird getrunken, getanzt, gelacht.

Es ist die erhoffte grosse Party. Eine illegale auch.

Darum rückt schon bald die Polizei an. Sie kann aber nichts unternehmen, weil die Zufahrten zur Halle verbarrikadiert sind. Und weil die rund tausend Gäste nicht den Anschein erwecken, als würden sie sich widerstandslos aus ihrem Reich vertreiben lassen.

Darum zieht sich die Polizei schon bald wieder zurück. Nun gilt auf dem nt/Areal nur das Gesetz der Jungen, und das heisst: Party.
In dieser Nacht vom 2. Juni haben sie gewonnen – anders als an den vergangenen Wochenenden, als die Polizei mehrere Partys verhindert oder frühzeitig beendet hatte.

Das hätte sie auch diesmal tun sollen, denkt man in den schönen neuen Häusern auf der anderen Seite des nt/Ar­e­als. In den lokalen Medien beklagen sich mehrere Anwohner darüber, dass die Partyleute nicht nur extrem laut, sondern auch aggressiv gewesen seien und einen beträchtlichen Sachschaden (kaputte Scheiben, versprayte Wände) hinterlassen hätten.

Wilder Bürgerschreck

Das junge Party-Volk – eine wilde, ­primitive Horde. Diesen Eindruck vermittelt auch die Polizei, die am Tag danach in ihrem Communiqué schreibt, sie sei auf dem nt/Areal von einer Gruppe Vermummter mit Steinen angegriffen worden.

Die Party-Aktivisten behaupten, dass die Aggressionen von der Polizei ausgegangen sei und kokettieren gleichzeitig aber mit ihrem Ruf als ­wilder Bürgerschreck. In einer anonym verbreiteten Mitteilung sprechen sie stolz von einer erfolgreichen «Sau­vage», einer wunderbar wilden Party, «fern von gesetzlichen Regulierungen, Einschränkungen und Kontrollphantasien».

Dieses Wilde muss dringend gebändigt werden, damit es in Basel zu keiner weiteren Party-Randale kommt. So weit sind sich die Politiker einig. Aber nur so weit. Während Jungpolitikerinnen wie Salome Hofer (SP) und Mirjam Ballmer (Grüne) die Party-Leute mit mahnenden Worten zu einer Aussprache aufbieten, setzt allen voran die SVP auf die harte Tour. In einer Mitteilung fordert sie «ein restriktives Durch­greifen» gegen die «linken Chaoten» und ein Verbot der Partys (die allerdings ohnehin schon verboten sind).

Die Basler Ethnologin Florence Weiss hält solche Aussagen für «sehr einfach». Darum fühlt sie sich auch an die Debatte rund um die Unruhen in den 1980er-Jahren erinnert. «Schon damals wurden die Jugendlichen teilweise so dargestellt, als wären sie irgendein fremder, wilder Stamm. Sie wurden exotisiert und pathologisiert.»
Weiss hält das für ungerechtfertigt. «Ich glaube, dass die Jugendlichen recht haben, auch heute», sagt sie: «Bei uns ist alles auf Konsum ausgerichtet und alles sehr stark reglementiert.» ­Insofern verstehe sie die Jugendlichen und ihre Faszination am Normenbruch, am Ausbruch aus den vor­­ge­gebenen Räumen. «Man ­müsste sich ernsthaft mit ihnen beschäftigen, auch wenn das viel Zeit braucht.»

Doch ist es in Basel möglich, eine ernsthafte Auseinandersetzung zu führen? Kaum, solange beide Seiten die Deutungshoheit für sich reklamieren und sich die einen in der Rolle der Zivilisationsbewahrer und die anderen in jener der Wilden gefallen. Die Unmöglichkeit zeigt die Geschichte. Schon die alten Griechen waren überzeugt, dass es sinnlos ist, mit den Barbaren zu reden, da diese angeblich nur unverständliche Brabbellaute («Bar-bar») von sich gaben. Also bekriegte man sie. Genau gleich wie später – in den Zeiten der Römer – die Germanen, im Mittelalter die Tataren und danach die Urvölker in Amerika, Afrika und Asien.
Immer und überall wurden die fremden Wilden ähnlich dargestellt: pri­mitiv, faul, blutrünstig bis hin zu kannibalisch. Mit solchen Beschreibungen liess sich alles entschuldigen, auch die Vernichtungskriege und die Ausbeutung ganzer Kontinente. Wer andere als Barbaren anschaut, wird selbst zum Barbar, stellt der französische Ethno-loge Claude Lévi-Strauss fest.

Rousseau, Voltaire und Melville

Es gab zwar auch Europäer, die die Menschen in Amerika, Afrika und ­Asien freundlich beschrieben. Die gros­se Umdeutung des Wilden fand aber erst in der Aufklärung statt – auch dank dem Philosophen Jean-Jacques Rousseau, der den freien Naturmenschen zum Ideal stilisierte, als Gegenmodell zum modernen Menschen, der gefangen ist in einer Welt voller Neid und Rivalität. Eine Welt, die immer mehr Regeln und Gesetze braucht, damit die Gegensätze nicht offen ausbrechen und die Gesellschaft zerstören.

Mit seinen Thesen erntete Rousseau viel Zustimmung – und Spott. «Bei der Lektüre bekommt man Lust, auf allen Vieren zu gehen», bemerkte etwa Voltaire, einer der gros­sen Denker jener Zeit. Möglicherweise hat Rousseau mit seiner Naturschwärmerei tatsächlich etwas übertrieben, zumindest in einem Punkt aber hatte er recht: Die Welt war eine komplizierte geworden – auch was die Wilden anbelangte. Bester Beleg dafür: Herman Melvilles Jahrhundert­roman «Moby Dick» von 1851, in dem der Harpunier Queequeg Werte wie Zuverlässigkeit und Nächstenliebe verkörpert, obwohl er ursprünglich mutmasslich ein Kannibale war. Umso wilder gebärdet sich dafür Kapitän Ahab, ein Weisser, der das Prinzip des Individualismus bis zum Äussersten treibt. Bis zum totalen Untergang.

Das Wilde als Teil der Gesellschaft – ein halbes Jahrhundert später, im Naturalismus, wurde dieses Phänomen nicht mehr nur metaphorisch angedeutet, sondern drastisch beschrieben. Von Upton Sinclair zum Beispiel, der 1906 seinen schockierenden Report über die Ausbeutung der Arbeiter und die Korruption in der Wirtschaft veröffentlichte. «The Jungle», lautete der ­Titel – die Grossstadt als Dschungel, in dem jeder gegen jeden kämpft.

Absurde Überreglementierung

Die Macht der Wirtschaft, die Ohnmacht des Einzelnen, die Überreglementierung – all die Kritik aus der ­uralten Wilden-Debatte wird nun plötzlich wieder in Basel laut. «Wir werden ausgebeutet. Was uns als Demokratie verkauft wird, ist nicht wirklich eine», sagten zwei Party-Akti­visten in einem Gespräch mit der TagesWoche – und wurden danach auch noch etwas konkreter: «In Basel ist selbst die Stras­senmusik strikt reglementiert – absurd», sagten sie. Und: «Wegen der sogenannten Stadtauf­wertung fühlen wir uns im St. Johann, wo wir aufgewachsen sind, heute fremd. Wir sind auch nicht einverstanden, dass auf dem Voltaplatz ein Robi-Spielplatz gebaut wird, der wie ein ­Internierungslager aussieht.» Und: «Wir wollen wieder mehr Freiraum, um ­kreativ zu sein.»

Vielleicht hätten die grossen Gesellschaftskritiker aus den vergangenen Jahrhunderten mehr Verständnis für solche Aussagen als die Politiker in Basel. Vielleicht muss man heute gerade in dieser Stadt, die sich mit der Wirtschaft so gut arrangiert und sich dem Bau neuer, hipper Wohnkomplexe und ganzer Quartiere verschrieben hat, schon selbst etwas wild sein, um solche Sachen offen anzusprechen.
Bedenkenswert wäre es dennoch.

 

«Sauvage», wild, ist eng verwandt mit dem lateinischen Begriff silvaticus (Waldmensch). Früher wurde damit alles umschrieben, was irgendwie exotisch und damit unzivilisiert erschien. In jüngerer Zeit wird der Begriff auch im positiven Sinn verwendet: In der Politik, im Sport, in der Wirtschaft ist immer wieder von «jungen Wilden» die Rede, die für Furore ­sorgen. Und auch in der Besetzerszene spricht man gerne von «Sauvages» – ebenfalls seit Längerem, spätestens seit den ­Unruhen in den 1980er-Jahren. Gemeint ist damit eine tem­poräre Besetzung des öffentlichen Raumes für Konzerte oder Partys. So wie 2009, als sich nach ein paar ruhigeren Jahren in Riehen 2000 Menschen an der «Village Sauvage» trafen, um zwei Nächte lang in Abrisshäusern zu tanzen. Eine Veranstaltung, die von der Polizei toleriert wurde. Nach ­Zwischenfällen 2011 bei der Besetzung des alten Kinderspitals und einer Open-Air-Party auf der Voltawiese scheint die Polizei nun aber auf Repression zu setzen. Ein Grund, warum es zuletzt vermehrt zu Konflikten rund um Partys kam.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.06.12

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