Interview mit Lucas Marco Gisi, Mitherausgeber des Buches „Schwärme. Kollektive ohne Zentrum“ (2009)
Wir wissen es: Soziale Netzwerke sind auf maximale Nähe ausgerichtet. Galt es in der Jugend einst den fragenden Eltern oder Lehrern zu entkommen, fragen uns Dienste wie Facebook unterdessen permanent: „Wo bist du? Und was machst du gerade?”
Nennt sich das Freiheit für jeden? Oder sind die Netzwerke, unser Schwarm aus Freunden und Freundes Freunde, die neue Form von Gouvernementalität? „Digitalen Maoismus“ nennt Jaron Lanier diesen Irrglauben, dass ein Kollektiv als intelligente Masse einem einzelnen Individuum überlegen ist. Er wendet sich damit gegen die Schwarmintelligenz, die das Individuum zu einem einzelnen an sich nutzlosen Teilchen einer Masse degradiert. Nur als ein sich gegenseitig überwachendes Team geling es beispielsweise den Bibern ihren Damm, ihre Gesellschaft bzw. ihren Staat aufzubauen und auch zu erhalten. Sind wir Menschen auch politische Tiere (zoon politikon)? Wieviel haben wir mit einem Biber gemeinsam?
Der Mewi-Blog hat Lucas Marco Gisi, mit Eva Horn der Herausgeber des Buches Schwärme. Kollektive ohne Zentrum, für ein Interview getroffen und ihn zu seinem Buch befragt:
Herr Gisi, worum geht es in dem Buch?
Mit dem Modell des Schwarms lassen sich Formen der Selbstorganisation in der Natur und des Sozialen sowie deren Modellierung in der Informatik beschreiben. Das Besondere dieser Organisationsform besteht darin, dass das Kollektiv mehr ist als die Summe seiner Teile, das heißt, dass aus ihr beeindruckende Phänomene einer kollektiven oder eben Schwarm-Intelligenz hervorgehen.
Was sind zentrale Schlagworte?
Untersucht werden Schwärme, Massen und Netzwerke als Organisationsformen, die sich selbst mit Schlagworten wie Selbstorganisation, Emergenz, Dezentralisierung oder kollektive Intelligenz bezeichnen lassen.
Was ist eine zentrale These des Buches?
Es handelt sich um einen kulturwissenschaftlichen Sammelband mit Beiträgen von Forscherinnen und Forschern aus verschiedenen Disziplinen (Wissenschaftsgeschichte, Philosophie, Soziologie, Medien- und Literaturwissenschaft): Behandelt werden Themen wie die Selbstorganisation und Dezentralisierung in der politischen Philosophie oder in der Massenpsychologie, die Simulation von Netzwerken und Schwärmen, der Schwarm in der Science Fiction und – in kulturgeschichtlicher Perspektive – die politische Organisation von Tieren, etwa der Ameisen, der Bienen oder der Biber. Zusammengehalten werden die Beiträge durch die Einsicht, dass Massen, Netzwerke und insbesondere Schwärme geeignete Modelle darstellen, um über Kollektive ohne (hierarchisches) Zentrum nachzudenken.
Welche Herausforderungen stellt das Buch an die Leser?
Aufgrund der Interdisziplinarität des Themas kann man sich fragen, an wen sich das Buch richtet. Nur an Wissenschaftshistoriker? Und wozu dient dem Informatikspezialisten das historische Wissen? Oder ist es vielmehr an der Politikwissenschaftlerin, Folgerungen aus dem Dargestellten zu ziehen? Dazu kommt, dass Schwärme ein Phänomen sind, das die meisten von uns in der Natur selbst schon beobachten konnten, etwa am Beispiel von Vogelschwärmen. Durch verschiedene Filme und insbesondere durch Frank Schätzings Bestseller-Roman Der Schwarm (2004) sind Schwärme außerdem als Thema der Science Fiction einem breiten Publikum bekannt geworden. Ein weites Feld also.
Warum empfehlen Sie uns dieses Buch?
Ich denke, dass ein interdisziplinärer Zugriff für das kulturwissenschaftliche Nachdenken über das Schwarmverhalten unabdingbar ist. Vielmehr macht gerade die Herausforderung, eine Brücke zwischen der alltäglichen Erfahrung, dem populärem Wissen und der wissenschaftlichen Erforschung zu schlagen, den Reiz des Themas und insofern auch des Buches aus. Das Thema hat aber auch einen deutlichen Gegenwartsbezug; denn es eröffnet nicht nur ein Verständnis für Organisationsformen in der Natur und deren technische Modellierung, sondern das Modell des Schwarms regt auch an zum Nachdenken über alternative Formen gesellschaftlicher Organisation.
Haben Sie einen Lieblingssatz?
Nicht nur einen Satz, sondern einen ganzen Dialog. Einen Auszug aus Gotthold Ephraim Lessings Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer (entstanden 1776–1778), der im Beitrag von Niels Werber analysiert und in dem der Traum der politischen Selbstorganisation durch den Hinweis auf Tiergesellschaften thematisiert wird:
»FALK. Die Ameisen leben in Gesellschaft, wie die Bienen.
ERNST. Und in einer noch wunderbarern Gesellschaft als die Bienen. Denn sie haben niemand unter sich, der sie zusammen hält und regieret.
FALK. Ordnung muss also doch auch ohne Regierung bestehen können.
ERNST. Wenn jedes einzelne sich selbst zu regieren weiss: warum nicht?
FALK. Ob es wohl auch einmal mit den Menschen dahin kommen wird?
ERNST. Wohl schwerlich!
FALK. Schade!
ERNST. Ja wohl!«
Zum Schluss: Was hat es mit dem Biber auf sich?
Das Buch erinnert daran, dass und wie das Imaginäre Veränderungen in der Natur und Kultur nicht nur begleitet und reflektiert, sondern tatsächlich auch mitbestimmt. Ein Beispiel dafür liefert eben die Kulturgeschichte des Bibers: Nachdem dieser in Europa weitgehend ausgerottet worden war, wurde er im 17. und 18. Jahrhundert in Nordamerika und Kanada in großer Anzahl, also gleichsam als Arbeitskollektiv, „wiederentdeckt“. Die dadurch angeregte Beschreibung des Bibers als politisches Tier wiederum ging in der europäischen Aufklärung in das Nachdenken über die ideale Staatsform ein.
Vielen Dank!
Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information. Hg. v. Eva Horn u. Lucas Marco Gisi. Bielefeld: transcript, 2009 (Masse und Medium; 7).