«Der Protest ist eine Frage der Ehre»

Grossrätin Sibel Arslan reist zur Zeit quer durch die Türkei und beobachtet die Demonstrationen in ihrer Heimat aus nächster Nähe. Welche Wut die Menschen in der ganzen Türkei verbindet, erzählt sie im Interview.

«Erstmals solidarisiert sich die ganze Gesellschaft für eine Sache.» Die Grossrätin Sibel Arslan über die Kundgebungen in ihrer Heimat.

(Bild: Nils Fisch)

Grossrätin Sibel Arslan reist zur Zeit quer durch die Türkei und beobachtet die Demonstrationen in ihrer Heimat aus nächster Nähe. Welche Wut die Menschen in der ganzen Türkei verbindet, erzählt sie im Interview.

Sibel Arslan erlebte die Demonstrationen in Istanbul vom ersten Tag an. Anfang Woche reiste sie mit einer Delegation in die Osttürkei zu einem Basler Partnerprojekt und weiter zu ihrer Familie nach Tunceli (Kurdisch: Derzim). Als wir die Grossrätin erreichen, steht Sie mit dem Handy auf einem Feld ihres Grossvaters und hilft ihm beim Gemüseanbau. 

Basler Grossrätin oder türkische Frau, in welcher Rolle nehmen Sie an den Kundgebungen teil?

Ich habe mich in den letzten Tagen wiederholt gefragt, was hier meine Rolle ist. Ich kann mich allenfalls mit den Leuten solidarisieren. Zur Lösung der Probleme kann ich aber wenig beitragen. Das müssen die Menschen im Land selbst in die Hand nehmen. Ich bin als Beobachterin und grüne Politikerin hier, besuche eine Städtepartnerschaft und meine Familie.

Nicht nur in Istanbul, auch im Osten der Türkei gehen die Menschen auf die Strasse. Wie sind ihre Eindrücke der vergangenen Tage?

Ich wurde auch im Osten Zeugin mehrerer Demonstrationen. Zuletzt am Dienstagabend in einer Nachbarstadt von Derzim, wo mehrere hundert Menschen auf die Strasse gegangen sind. Darunter auch einige meiner Verwandten. Nach dem die Polizei eingriff, zogen sich die Demonstranten in ein geistliches Zentrum der Aleviten zurück. In der Nacht kam erneut die Polizei und warf Tränengas in das Gebäude. Vor der Türe wurden dann die Fliehenden abgefangen. Auch in anderen Städten wo ich war, ist die Polizei omnipräsent. Ganze Städte sind für den Verkehr gesperrt.

Den Medien wurde vorgeworfen, die Demonstrationen totzuschweigen.

Das hat sich seit vorgestern etwas verbessert. Es gibt vermehrt Zeitungsberichte und auch Live-Übertragungen von Fernsehstationen. Allerdings haben die Medienhäuser, wie übrigens auch die Bürger, Angst vor der Regierung. Mit Kritik sind sie deshalb sehr zurückhaltend.

Was für Leute sind es, die im Osten des Landes auf die Strasse gehen?

Es ist hier, wie auch in Istanbul, eine sehr breite Bewegung. Es sind junge wie alte Menschen, politische und apolitische. Die Türkei hat noch nie so etwas erlebt. Erstmals in der Geschichte der Türkei stehen Leute aus den unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft und Regionen gemeinsam für etwas ein.

Angefangen hat alles mit den Plänen von Präsident Erdoğan, einen zentralen Park in Istanbul zu überbauen.

Das war der Anfang. Die Polizei ging mit Gewalt gegen die friedlichen Demonstranten vor. Von da an gingen die Menschen immer zahlreicher auf die Strasse. Es geht aber um etwas grundsätzlicheres als um den Park. Die Leute fühlen sich im ganzen Land nicht mehr ernst genommen von der Regierung. Viele Türken sprechen von einem «Aufstand der Ehre». Es besteht der Eindruck, der Präsident Tayyip Erdoğan, mache was er wolle. Er mischt sich immer stärker in das Privatleben der Menschen ein. Etwa bei Fragen zu Abtreibung oder Alkohol. Er betreibt eine schleichende Islamisierung des Landes. Dagegen wehren sich die Leute. 

Was für Forderungen haben Sie an den Demonstrationen gehört?

Die ursprüngliche Forderung besteht immer noch. Die Leute wollen, dass der Stadtpark in Istanbul erhalten bleibt. In der Zwischenzeit fordern viele auch den Rücktritt von Präsident Erdoğan. Die Demonstranten verlangen zudem eine Entschuldigung der Regierung für das brutale Vorgehen der Polizei. In diesen Stunden treffen sich Vertreter der Demonstranten vom Taksim-Platz mit dem Vizepräsidenten zu einer Aussprache.

Was glauben Sie, wie sich die Lage weiterentwickelt?

In den vergangenen Tagen hat die Polizei in Istanbul zivile Schläger auf die Demonstrierenden gehetzt. Das ist eine gefährliche Entwicklung. Es ist wirklich schwierig eine Prognose zu machen. Solange sich die Polizei zurückhält, verhalten sich auch die meisten Demonstrierenden sehr friedlich. In Istanbul wird auf den Strassen getanzt und gesungen. Sollte Erdoğan die Forderungen der Demonstranten aber nicht erfüllen, könnte es eskalieren. Es braucht als erstes eine öffentliche Entschuldigung. Für Erdoğan wäre bereits das ein empfindlicher Machtverlust.

 

 

 

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