Der samstägliche Ausnahmezustand

Einkaufstouristen aus der Schweiz setzen im grenznahen Deutschland jährlich mehrere Milliarden Franken um. Die Händler reiben sich die Hände – doch Einheimischen wird der Ansturm aus dem Ausland allmählich zu viel.

An Wochenenden sind die Basler in Lörrach fast unter sich: Jeder zweite Kunde ist ein Einkaufstourist aus der Schweiz. (Bild: Ruda Barbara)

Einkaufstouristen aus der Schweiz setzen im grenznahen Deutschland jährlich mehrere Milliarden Franken um. Die Händler reiben sich die Hände – doch Einheimischen wird der Ansturm aus dem Ausland allmählich zu viel.

Es sind einfach zu viele Leute hier», sagt Klaus-Dieter, der mit seinem Einkaufskorb zum Wochenmarkt schlendert. Seit Jahren gehört das zu seiner samstäglichen Beschäftigung, das Angebot der Bauern aus der Region lockt ihn. Aber die Lust, sagt er, lasse von Woche zu Woche nach. «Mir ist es einfach zu voll geworden, man kommt ja an manchen Tagen nicht mehr so richtig durch.»

Rainer hastet vorbei, drei Tüten in den Händen, und man sieht ihm nicht an, ob er schnell zum nächsten Geschäft oder nichts wie weg will. Er wirkt nicht wie der Shopper-Typ, der das Einkaufen geniesst und dem die grosse Zahl der anderen Einkäufer die Gewissheit gibt, genau hier richtig zu sein. «Das Angebot ist natürlich richtig gut geworden hier», sagt der Ingenieur aus dem Wiesental, «aber Spass macht das Einkaufen so nicht.»

Noch vor 25 Jahren war Lörrach von einer zweispurigen Einbahnstras­se zerschnitten, in bester Lage befand sich ein dauernd überfüllter Parkplatz, der historische Marktplatz war eine einzige grosse Kreuzung. Die Trottoirs waren gerade breit genug für einen Kinderwagen. Inzwischen ist der Platz von einer Reihe von Stras­sencafés gesäumt, die Fussgängerzone wurde eben erst wieder an zwei Stellen erweitert. Aber die Chancen auf einen vollständig entspannten Einkauf in einem der Lörracher Geschäfte sind seit Jahren gesunken. «Es ist der Wahnsinn hier», sagt Rainer.

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In Konstanz wurde am 1. Advents­wochenende ein Grenzübergang nach Kreuzlingen für Autos geschlossen. Wer in die überfüllte Stadt will, muss zu Fuss oder mit dem Fahrrad kommen. Es sind einfach zu viele Leute. Auch Lörrach droht an seinem ­Erfolg zu ersticken. Seit die Fussgängerzone Ende der 1980er-Jahre eingerichtet wurde, hat sich die Stadt radikal verändert. Der Handel boomt, die Umsätze erklimmen immer neue Rekordmarken, die Unternehmen investieren und erweitern, 80 Prozent der Arbeitsplätze in Lörrach entfallen inzwischen auf den Dienstleistungsbereich.

Kaum eine Branche kann mit den Textilketten mitbieten.

Es gibt in zentraler Lage kein einziges leerstehendes Geschäft, und wird ein Verkaufsraum frei, stehen die Interessenten Schlange. Das jagt die Mieten in die Höhe und führt zu Geschäftsaufgaben. Kaum eine Branche kann mit den Textilketten mitbieten. Eine Buchhandlung in zentraler Lage wurde das erste Opfer, zusammen mit einem alteingesessenen Schreibwarenhandel. Sie wichen einem Kleiderladen. Zuletzt wurde einem Porzellanhaus der Mietvertrag gekündigt, an anderer Stelle erweitert ein Modehaus, dafür musste ein Restaurant weichen. In den Quartieren am Stadtrand schliessen die alten Quartierbeizen, in der Innenstadt steigt die Zahl der Prosecco-Bistros und Latte-Macchiato-Hütten.

Es gibt viele Faktoren, die diese Entwicklung beschleunigen: der Bevölkerungszuwachs, das Ausbluten des ländlichen Raumes und die Verlagerung des Handels in die Zentren. In Lörrach kommt ein Sonderfaktor hinzu: Die Schweizerinnen und Schweizer, die dank der niedrigeren Preise, des günstigen Wechselkurses und nicht zuletzt wegen der Mehrwertsteuerrückerstattung den Weg über die Grenze wählen. Auf dem Gelände hinter der Hauptpost plant ein Investor den Bau eines Einkaufszentrums mit 10 000 Quadratmetern Einkaufsfläche und Tiefgarage. Der Immobilien­unternehmer drängt zur Eile, man wisse schliesslich nicht, wie lange der Frankenkurs noch so günstig stehe.

Samstag ist «Schweizertag»

Details verraten die Ladeninhaber nicht. Rund 30 bis 40 Prozent des Umsatzes mache sein Haus mit Kunden aus der Schweiz, verrät Horst Schmiederer, Seniorchef des Modehauses Kilian im Zentrum. Auf die gleiche Grössenordnung kommt Horst Krämer, der Sprecher der Einzelhändler. Und auch bei der Industrie- und Handelskammer spricht man von etwa 30 bis 40 Prozent. Das ist der Durchschnitt. Die Zahl der Kunden könnte etwas darunter liegen, denn der Umsatz pro Einkäufer ist höher. Der Anteil der Schweizer Kunden ist nicht gleichmässig über die Wochentage verteilt. Er liegt an manchen Samstagen bei 50 Prozent. «Früher gab es zwei, drei ‹Schwobedäg› in Basel», erinnert sich Monika, die aus Lörrach stammt und einst auch viel in Basel einkaufte. Aber heute sei in Lörrach jeden Samstag «Schweizertag».

Nadja, eine junge Mutter aus Basel, sagt, sie habe die Brille für ihren Sohn in Basel kaufen wollen, aber dort hätte sie rund 1000 Franken gekostet. In Lörrach zahlte sie 300 Euro – und erhielt 48 Euro Mehrwertsteuer zurück. «Da bin ich schwach geworden.» Monika sagt, das verstehe sie gut, aber manchmal komme sie ins Grübeln, ob der deutsche Staat das alles noch in diesem Umfang fördern sollte, indem er die 19-prozentige Mehrwertsteuer erstattet. «Neulich hat jemand vor mir bei Aldi vier Kartons Milch gekauft. Das braucht kein Privathaushalt, der kauft das für sein Café ein», sagt Monika. «Was da passiert, darüber darf man gar nicht nachdenken.»

Im vergangenen Jahr haben die Zollbeamten an den Grenzübergängen zwischen Weil am Rhein und Konstanz fast zwei Millionen grüne Ausfuhrscheine abgestempelt. An Spitzentagen sind es zwischen 5000 und 6000 Formulare, die eigentlich zumindest in Stichproben geprüft werden sollten. Zum Beispiel, ob die angegebenen Waren auch tatsächlich ausgeführt werden.

1,5 Milliarden Euro Umsatz bringen die Schweizer – mindestens.

Ein Zollbeamter sagt: «Da sind 150 gut ausgebildete und qualifizierte Leute damit beschäftigt, einen Stempel auf einen Zettel zu drücken, das ist ein Unding. Die machen nichts anderes.» Viele Beamte seien frustriert, weil sie ihrer eigentlichen Aufgabe nicht nachgehen könnten. Die Gewerkschaft der Zollbeamten verlangt seit geraumer Zeit, das Steuerprivileg zumindest einzuschränken und erst bei einem Mindesteinkauf von zum Beispiel 100 Euro zu gewähren.

Selten sind sich der örtliche Handel und die Politiker aus der Region so einig wie in diesem Punkt: auf keinen Fall. Auch wer sonst gerne gegen Subventionen jeder Art wettert, in diesem Fall wird die Unterstützung des Einzelhandels durch einen Einkaufszuschuss für Schweizer Kunden mit Zähnen und Klauen verteidigt. Die Industrie- und Handelskammer beziffert den Umsatz auf 1,5 Milliarden Euro, räumt aber ein, dass dies eine sehr vorsichtige Schätzung sei und dass auch die höheren Zahlen, die in der Schweiz kursieren, zutreffen könnten. Das wären dann bis zu 4,5 Milliarden Franken.

Die grössten Profiteure des Systems sind Leute, die in der Schweiz ­einen Wohnsitz haben. Sie lassen sich die Ausfuhr der Waren bestätigen. Beim nächsten Einkauf in dem besagten Geschäft lassen sie sich die einbehaltene Mehrwertsteuer zurückerstatten. Für die Einzelhändler ändert sich nichts, sie zahlen den Kunden bloss jene Summe aus, die sie sonst an den Staat abführen müssten. «Das ist ein hervorragendes Kundenbindungsinstrument», erklärt ein Sprecher der Industrie- und Handelskammer.

Ärger über die Profiteure

Seit sich die Vorzüge der grünen Ausfuhrscheine herumgesprochen haben, mehren sich allerdings auch die Fälle von Missbrauch. Unter Grenzgängern ist es längst keine Seltenheit mehr, dass Schweizer Arbeitskollegen in Deutschland vom Wintermantel über das Notebook bis zum Fahrrad alles Mögliche einkaufen und die Waren am nächsten Arbeitstag dem deutschen Freund übergeben. Eine junge Mutter, die gerade mit ihrem Schweizer Partner zusammengezogen ist, denkt bereits über neue Perspektiven fürs Einkaufen nach: Da ihr Freund noch einen Wohnsitz in der Schweiz hat, kann er fortan morgens einkaufen, die Waren zur Ausfuhr anmelden – und am Abend die Sachen dann von der Arbeit mit nach Hause nehmen.

Immer mehr Einheimische ärgern sich über die «Profiteure aus der Schweiz», die sich vor den Kassen stauen. Kürzlich scherzte eine Kolumnistin in der «Badischen Zeitung», angesichts des Ansturms der Schweizer wäre es für die Lörracher wohl besser, die Innenstadt zu meiden. Zumindest vor Feiertagen wie der Adventszeit beispielsweise, wenn der Ausnahmezustand droht.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 20.12.13

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