Während die Kinobetreiber expandieren, gehen die Verleiher auf dem Zahnfleisch: Rialto Film meldete im August 2013 Konkurs an. Warum? Wie sieht die Nahrungskette hinter den Kinoeingängen aus? Und was macht eigentlich ein Verleiher? Christian Gerig klärt auf.
Er ist ein Urgestein der Schweizer Filmlandschaft: Christian Gerig hat als Journalist gearbeitet, ehe er über den Verwaltungsrat der Rialto Film AG schliesslich in den Besitz des Verleihbetriebs gelangte. Rialto hatte eine bewegte Geschichte hinter sich. Als Erfolgsfirma wurde sie von der deutschen Kinowelt gekauft. Nach der Insolvenz der «Kinowelt» übernahm Christian Gerig die Rialto mit neuem Mantel erneut, nachdem er über die Verpflichtungen, die die Verantwortlichen der «Kinowelt» in der Zwischenzeit der alten Rialto aufgebürdet hatten, eine Einigung erzielt hatte.Im August dieses Jahres musste der Verleiher mit seiner Firma Konkurs anmelden. Gerig nennt sich «ersetzbar». Dennoch macht es die Schweizer Filmlandschaft ärmer, wenn einer wie er, reich an Erfahrung, das Handtuch wirft.
Herr Gerig, Sie waren mit Rialto Film in einem schwierigen Segment des Filmbusiness tätig: als Verleiher. Was war ihr Höhepunkt?
«Der englische Patient». Den habe ich entdeckt, weil ich schon im Lektorat auf das Buch gestossen war. Ich konnte ihn für wenig Geld kaufen und in die Kinos bringen, wo er dann durchstartete …
Jetzt ist einer der prominentesten Filmverleiher in der Schweizer Szene zahlungsunfähig. Muss dieses Signal die Industrie im Land beunruhigen?
Das Geschäftsmodell ist zu einfach: Verleiher sind andauernd auf der Suche nach dem Lucky Punch, dem Kassenschlager. Das nährt nur wenige. Im letzten Jahr sind 50 bis 60 Spielfilme in der Schweiz produziert worden. Davon haben es ein Drittel ins Kino geschafft, am Ende erreichten einer oder zwei Filme Zuschauerzahlen, die einen Break Even erreichten. Sprich: damit wurde Geld verdient. Vom Verleih. Vom Produzenten. Der Rest funktionierte nur mit Subvention.
Trotzdem bringen Sie den Kinobetreibern Geld. Die Kitag baut in Basel einen neuen Kinokomplex. Pathé schliesst die beiden Eldorado-Säle. Die Kult-Kinos planen neue Säle im Atelier beim Theater Basel. Wie verhält sich die Entwicklung in Basel zur Schweiz?
Es wird gesamtschweizerisch mehr Säle geben. Das kommt den Verleihern entgegen. Es drängen zu viele Filme auf den Markt. Der Chef der Kitag, Philipp Täschler – er hat früher für Rialto gearbeitet –, hat auch als Kinobetreiber erkannt, dass er einen Film länger im Programm halten kann, wenn er ihn in kleinere Säle abschieben kann. Täschler hatte mir schon vor Langem vom Plan erzählt, in den Gebäuden der ehemaligen Druckerei der «Basler Zeitung» ein Multiplex einzubauen. Das ist jetzt spruchreif.
«Eine Branche tappt im Dunkeln.»
Ab 13. Dezember auf Papier oder in der App der TagesWoche.
Gleichzeitig ist aber auch in Zürich Bewegung in die Szene gekommen.
Ja, in Zürich werden derzeit 20 neue Säle angedacht. Pathé macht zudem in einem Einkaufszentrum in Ebikon ebenfalls ein achtfaches Multiplex auf. Kommen in Basel etwa zehn hinzu.
Zu viele Kinos?
Ich meine: ja. Aber die Kinobetreiber denken neuerdings in anderen Kategorien: Sie nutzen Ihre Säle für Events. Zeigen Live-Übertragungen von Opern. Planen Direktübertragungen von Theatern aus europäischen Grossstädten. Fussballspiele. Firmenpräsentationen. Die Kinos werden den Eventismus forcieren. Das muss nicht unbedingt zum Vorteil der Filmfreunde sein.
Die Kinos werden den Eventismus forcieren.
Stehen neue Säle für grossen Optimismus der Kinobetreiber?
Vielleicht auch für einen Verdrängungskampf. Ganz sicher wird der Markt noch mehr zweigeteilt. Einerseits die Blockbuster, ergänzt vielleicht durch Entdeckungen. Anderseits werden die Massen der Filme nur noch zu Werbezwecken für die Home-Medien laufen. Und das Mittelfeld der Hochklassigen wird wegfallen. Da ist jetzt schon eine Tendenz sichtbar. Die Home-Medien steigen auf Serien um.
Es werden sehr viel mehr Filme produziert. Bleibt die Qualität auf der Strecke?
Es ist sehr viel mehr Geld unterwegs. Die Kette der involvierten Geldgeber ist dichter geworden. Aber auch die Kette der Rechtenutzer. Richtig verdienen könen nur die Grossen. Die vielen Kinos machen auch nicht das grosse Geld. Pathé, Arthouse, Kitag oder die kult.kinos geben viel Geld für neue Technologie aus, haben hohe Personalkosten. Sie merken als erste, wenn die Zuschauer ausbleiben, auch wenn sie am wenigsten Risiken in der Verwertungskette tragen. Die Verleiher verdienen allesamt kaum Geld. Frenetic hat vielleicht in diesem Jahr mal ein gutes Jahr. Aber à la Longue haben Verleiher Glück, wenn sie schwarze Zahlen schreiben können.
Erklären Sie uns bitte mal die Nahrungskette in diesem Industriezweig: Was machen die Verleiher, die zwischen Produzenten und Kinos agieren?
Sie sind ein bisschen wie die Verleger im Literaturbetrieb, die viele gute Manuskripte erhalten und entscheiden, was zum Buch wird. Machen wir mal ein Beispiel: Ein Verleih kauft die Schweizer Rechte an einem Film, legt dafür vielleicht 300’000 Dollar hin. Die Rechte gelten für die Kinos und die DVD-Rechte im deutschsprachigen Teil des Landes. Die französischen DVD-Rechte sind hingegen an Frankreich gekoppelt. Dann legt der Verleiher noch einmal 200’000 Franken für Untertitel, Synchronfassung, Kopien und Werbung aus. Wenn der Film mittelmässig läuft, macht er in der Schweiz 20’000 Zuschauer. Pro Platz gehen an den Verleiher fünf Franken. Das heisst, sie nehmen 100’000 ein. Die Margen sind sehr eng. Nur, wer selber die Verwertungskette in der Hand hat, wie das der Schweizer Regisseur Samir jetzt plant, oder Pathé bereits kann, hat einen Platzvorteil.
Ist ein Verleiher auch eine Art Broker?
Wir kaufen die Rechte zwei Jahre, bevor der Film ins Kino kommt. Das sind reine Hoffnungsträger, Optionen wenn Sie wollen. Zu dem Zeitpunkt gibt es von einem Film meist nur das Drehbuch.
Sie kaufen den Film bevor er zu sehen ist?
Ja. Vor drei Jahren war in Cannes die Rede von einem Drehbuch, in dem ein Schwarzer und ein Tetraplegiker sich anfreunden. Tetraplegiker! Mit einem unbekannten Schauspieler aus Afrika. Das war «Les Intouchables». Frenetic hat ihn gekauft, 1,4 Millionen Zuschauer haben ihn gesehen. Wie soll das jemand riechen, wenn nur das Drehbuch da ist? Mit lauter Unbekannten im Cast?
«Vor drei Jahren war in Cannes die Rede von einem Drehbuch, in dem ein Schwarzer und ein Tetraplegiker sich anfreunden: Les Intouchables.»
An den Festivals werden keine Filme entdeckt?
Nur noch einer von zwanzig Filmen wird an Festivals entdeckt. «Departures» war so einer. Niemand wollte den. Ich sah ihn in Los Angeles, konnte ihn für 10’000 Dollar kaufen. Der Normalfall aber sieht so aus: Eine Filmproduktion stellt ein Projekt mit einem Budget von 60 Mio. Dollar auf. Die Einnahmen kommen zu 45% aus den USA, je 10% Deutschland und England, Frankreich 8%, Japan 12%, Schweiz 0,8%. Wenn ich dabei sein will, muss ich 0,8% der 60 Millionen vorschiessen. Verleiher werden so auch zu Co-Finanzierern. Wenn 80% des Budgets stehen, fängt die Produktion an …
Wissen Sie beim Kauf, wer Regie führt?
In der Hälfte der Fälle, ja. Ein Jahr später sehen wir dann an einem Festival den fertigen Film. Nur in zwei von zehn Fällen ist dieser auch gut. In jedem Fall sind wir gezwungen, den Film zu verwerten, weil wir ja in Vorleistung gegangen sind. Verleiher und Produzenten tragen das Risiko. Kinobetreiber verteilen das Risiko. Oder sie können ihm ausweichen. Während die Produzenten immer mehr Serien produzieren.
Bedeuten Serien die Zukunft?
Serien werden für die Kabelbetreiber gemacht. Diese suchen neue Verwertungsformen, auch im Internet. Das ist die Zukunft. In 20 Jahren wird sich kein Konsument mehr von einem Kino vorschreiben lassen wollen, wann er einen neuen Film sieht. Es lässt sich heute auch niemand mehr von einer Radiostation vorschreiben, wann er seine Lieblings-Tunes hört. Die Produzenten werden vermehrt umsteigen. Die Konsumenten sind bereits dorthin unterwegs. Wenn ein Film am Dienstag um 16.40 Uhr läuft, hat doch keiner Zeit!
«In Zukunft wird sich kein Konsument mehr von einem Kino vorschreiben lassen wollen, wann er einen neuen Film sieht.»
Werden die Kinos zu Marketingabteilungen der Pay-TVs?
Bei den grossen Produktionen sicher. Kinos werden eine Art Schaufenster bleiben für die neuen Medien, die gluschtig machen … Aber es bildet sich auch ein neuer Konsumentenkreis. Die ab 45. Die Elterngeneration, bei der die Kinder aus dem Haus sind. Die wollen kluge Drehbücher. Gute Schauspielerinnen. Originalversionen. Die sind aber schwer zu bewirtschaften: In den Social Medias erreicht man sie nicht. Dort erreicht man nur die Jungen.
Arbeiten denn die Player der Branchen zusammen an der Zukunft?
Der Ton zwischen Verleihern und Kinobesitzern ist gehässiger geworden. Da geht es zu wie zwischen Optionenhändlern und Investoren. Am Montagmorgen entscheiden die Kinos anhand der Wochenendzahlen über die weiter Laufzeit. Dann werden Filme des einen Verleihers aus dem Programm geschmissen. Andere Filme werden reingenommen. Dann brüllt man sich an. Und am nächsten Montag ist alles wieder vergessen. Weil ja auch die Kinos nicht das grosse Geld gemacht haben.
Sie haben jetzt das Handtuch geworfen. Im Januar kommt noch ein Film in Basel bei Pathé raus, der heisst «Disconnect». Sie wollten ihn verleihen. Jetzt macht es ein anderer.
Der Film ist von «Exclusive Media»-Produktion. Blitzgescheite Leute. Der schickte mir das Drehbuch. Dann hat man mir ein Paket geschnürt, mit mehreren Filmen.
Das heisst für die Verleiher, dass sie nicht nur einen Film kaufen können, sondern gleich ein Paket einkaufen und verdealen müssen?
Genau. Sie kaufen zu einem klugen Film auch drei dümmliche Mainstream-Filme. Ich erhalte also vier in einem Korb. Dafür bezahlt man zum Beispiel 60’000 Dollar. Zum Vergleich: Die Rechte an «Hunger Games» kosten den Verleiher 800’000 Dollar.
Arbeiteten Sie gerne mit Schweizer Kinos?
Die Schweiz hat einen sensationellen Kinomarkt. Basel zeigt wahnsinnig tolle französische Filme. Schweizer lesen Untertitel! Das macht sie kompetent für internationales Filmschaffen. Wir haben allerdings eine miserable Filmpresse. Das reicht nicht einmal gebündelt für eine halbstündige Fernsehsendung. So kann kein Diskurs entstehen. Dabei ist es doch so: Worüber reden die Leute auf einer Stehparty, wenn sie sich nichts zu sagen haben? Sie reden über Film! Wir haben in der Schweiz neben Frankreich das beste Kinopublikum der Welt. Aber das ist auch der Verdienst der Kinos.
«Basel zeigt wahnsinnig tolle französische Filme.»
Was machen Sie nun, da Ihre Verleihfirma konkurs ist?
Ich bin Publizist. Ich komme ursprünglich vom investigativen Journalismus her. Zur Zeit arbeite ich mit an einer Ausstellung des Landesmuseums zum Thema «Identität und Film der Schweiz». Nationales Filmschaffen spiegelt ja auch die Identität eines Landes wieder. Film zeigt auf, dass es einen Schweizer Film nicht gibt. Vielleicht gab es ihn auf der Linie «Gilberte de Courgeney» …
«Chummerbuebe», «Romeo und Julia auf dem Dorfe», «HD Läppli», «Nötzli», «Schweizermacher» …
… und dann im Westschweizer Film mit Alain Tanner und Claude Goretta. Trotzdem existiert das Schweizer Filmschaffen nicht als solches. Was verbindet «Achtung, fertig, Charlie» mit «Lovely Louise»? Wir haben hochinteressante Einzelkämpfer. Das spiegelt die Schweiz wieder. Der Schweizer Markt ist zwanzig mal kleiner als der deutsche Markt. Das ermisst auch seine Wichtigkeit. Nur im Dokumentarfilmschaffen hat die Schweizer Landschaft eine erkennbare Topographie.
Das war ja auch in diesem Jahr die erfolgreichste Sparte. Verliehen Sie gerne Schweizer Filme?
Ja. Aber sie waren extrem schwer unter die Leute zu bringen. Meist hatten sie schon vom Look her keinen Production Value. Da reicht grad mal fürs Fernsehen. Kino ist das nicht. Sehr, sehr selten zumindest.