Das deutsche EM-Märchen ist perfekt. Die DHB-Auswahl entzaubert im Final auch die spanische Star-Auswahl. 24:17 besiegt sie den Turnierfavoriten. Der zweite EM-Titel ist ein spezieller Coup.
Vor knapp zwei Wochen hatte mutmasslich kaum ein Experte Deutschland bis zum letzten Tag auf der EM-Rechnung. Eine Welle von Verletzungen machte der früheren Handball-Topnation zu schaffen. Die Schlüsselspieler mussten gleich reihenweise Forfait erklären. Und zuletzt hatte der Deutsche Handball-Bund auf der grossen Bühne wenig Spuren hinterlassen. In London stand der DHB abseits, die letzte EM verpasste er ebenso, und zuletzt beanspruchte Deutschland zur Teilnahme an der WM eine Wildcard.
Tempi passati, im Land des Fussball-Weltmeisters schunkelte eine wohl zweistellige Millionen-Zahl von TV-Fans im Takt der imposanten Handball-Künstler, Berlin bereitet sich auf die erste Party des jungen Sportjahres vor. In Polen zelebrierte Deutschland eine grandiose Rückkehr, die Tickets für die nächsten Sommerspiele in Rio und die kommende WM in Frankreich sind gelöst. Seit dem missratenen Auftakt – ein 29:32 gegen Spanien – war die junge und wilde Mannschaft von Dagur Sigurdsson nicht mehr aufzuhalten. Sieben Siege reihte sie aneinander. Polens Publikum verneigte sich, die Gegner waren am Ende nur noch ratlos.
Dem nervenaufreibenden Kraftakt gegen Norwegen mit einer mitreissenden Schlussphase und Overtime liess das Ensemble der vielen Aussenseiter und medizinisch bedingt Nachgerückten eine Gala gegen Spanien folgen. Anders ist die gnadenlose Degradierung des Weltmeisters von 2013 und Titelanwärters nicht zu taxieren.
Nur schon der Auftritt der deutschen Defensive in der Startviertelstunde war Gold wert. Die Schwerarbeiter vor dem Top-Keeper Andreas Wolff liessen in jener wegweisenden Phase lediglich zwei Tore zu – eine auf diesem hohen Level fantastische Marke. In Kiel werden sie den Champion im kommenden Sommer mit Applaus empfangen.
Im Angriff kamen die Deutschen ihrerseits ohne Verzögerung auf Touren. 7:2 führte das Team, von welchem vor dem Turnier kaum einer EM-Erfahrung vorzuweisen hatte. Kai Häfner, der eine von zwei erst am letzten Montag Nachnominierten, der schon beim Krimi gegen Norwegen in der Verlängerung des Halbfinals für die Schlusspointe gesorgt hatte, trumpfte zu Beginn mit vier Treffern gross auf. Am Ende führte er die vermeintliche B-Equipe mit sieben Treffern zur Goldmedaille.
Der 26-Jährige vom TSV Hannover-Burgdorf steht wie kaum ein Zweiter für die Unbekümmertheit des überraschenden Champions. Der kam spät, sah sich kurz um und siegte ausnahmslos. Der grösste Erfolg seit dem WM-Titel im eigenen Land hat viele Charakter-Köpfe – der nur 1,88 m grosse Aufbauer ist einer davon.
Talente, Verkannte und Unterschätzte schrieben ein polnisches Märchen. Spieler aus dem Mittelfeld der Bundesliga machten beste Werbung für ihren Sport – und ihre Meisterschaft. Andy Schmid, bei den Rhein-Neckar Löwen und mitten in den Reihen der Euro-Stars beschäftigt zog vor der Performance der Deutschen den imaginären Hut: «Wahnsinn und typisch für die Jungs! Die ganze Mannschaft war im Flow.»
Zur Hauptfigur erhob der zweifache Bundesliga-MVP den Torhüter Wolff, der 48 Prozent der Schüsse der Iberer entschärft hatte: «Mit einer solchen Goalie-Leistung kann man ein Spiel nicht verlieren.» Vor ihm hätten die Südeuropäer «zu viel Respekt gehabt», analysierte Schmid gegenüber der Nachrichtenagentur sda. Spanien habe auf die Abwehrstärke Deutschlands «konzeptlos» reagiert, so der Rhein-Neckar-Star.
Kroatiens Top-Bilanz
Im Spiel um Bronze brillierten die Kroaten und fertigten Norwegen 31:24 ab. Den Nordländern ging in der Schlussphase eines aus ihrer Sicht erstklassigen Turniers die Kraft aus. Von der Balkan-Auswahl um den Kieler Star Domagoj Duvnjak musste sich «Norge» phasenweise vorführen lassen. Die jüngste Bilanz der Kroaten an Endrunden ist imposant: Die Sport-Nation mit nur 4,3 Millionen Einwohnern hat auf dem EM-, WM- und Olympia-Parkett innerhalb der letzten acht Jahre drei Silber- und vier Bronze-Medaillen gewonnen.