Die TagesWoche blickt in mehreren Etappen zurück aufs Kulturjahr 2011. Heute: 7 filmische Highlights, die wir im Kinosessel geniessen durften.
Kein Kinobesuch ist schöner als ein gemeinsamer Kinobesuch: Wenn Sie das verpasst haben, könne Sie das nachholen: Das Heimkino macht jeden Tag zum Feiertag. Eine unvollständige Auswahl von Filme, die für diese Tage hängen geblieben sind: (Welche wären’s bei Ihnen?)
1. Für Familiennachmittage im Mainstream: Über die Schwierigkeit der Liebe bei Vögeln: Rio 3D
Das ist schon auch für Euch, Kinder. Ein blaue Papagei fällt in Rio aus dem Nest und wird von Schmugglern in die USA entführt: Dort fällt er aus dem Käfig in den Schnee. Zum Glück rettet ihn ein Mädchen, zieht ihn gross, bringt ihm alles bei, was ein amerikanisches Kind kann (viel ist das nicht – es kann nicht einmal fliegen!) Das Kind bringt ihn nach Rio zurück, in den Dschungel-Zoo. Dort soll der kleine, letzte blaue Papagei die letzte blaue Mamagei treffen, um die Art fortzupflanzen. Wir ahnen es, er geht ihm wie allen, die die Liebe kennen lernen, er tut es unvorbereitet: Wie soll das gehen? Wenn man nicht einmal fliegen kann? Und ausserdem wieder entführt wird? Es geht, indem er mit seiner Freundin geht, in die Slums von Rio, in die Glitzerwelt des Karnevals, in die Verliese von Kidnappern, und endlich endet auch alles gut. Wir erfahren, was Vögel Vögeln übers Fliegen sagen: Du musst nur auf deine innere Stimme hören. Dann ist das für Vogeleltern ab sechs, die endlich mal den Vögeln beim fliegen zuschauen wollen, ein Heidenspass.
2. Ein kleiner Depp: Für grosse Angeber und kleine Mädchenversteher: ‚Rango‘
Liebe Kinder. Rango ist da! Nicht weitersagen! Es gibt diesen Aufschneider! Er selber weiss nicht recht, wo er ist, weil er bei einem blöden Unfall auf der Landstrasse aus seinem Aquarium geschleudert wird, Jetzt steckt er irgendwo im Wilden Westen. Er ist ein Gecko. Kein Mäusesheriff. Aber wie der Mäusesheriff von Janosch ist er in der Gegend fremd. Da heisst es fliehen. Aber wohin? In der Hitze. Im Dreck. Ist das eine Mäusefrau, die ihn da rettet? Und wo bringt sie ihn hin? In ein Drecksloch. So heisst das Städtchen, das am austrocknen ist. Es gibt kein Wasser mehr. Da hilft nichts. Ausser: ein Held. Die Bewohner dursten, und der Gecko schneidet auf. Er gibt an wie ein Wald voller Affen. Das trifft. Denn das Städtchen macht ihn zum Sheriff. Ab jetzt ist Gecko der gejagte Jäger. Als Mann der Gerechtigkeit setzt er sich gegen alles Böse durch, mal ungeschickt, mal listig, mal frech, mal wagemutig, mal rettungslos verloren. Also Kinder: Wenn ihr eure Eltern nicht zu Hause haben wollt, ladet sieben Freund ein! (Der Film ist ab acht!) Wenn die Eltern unbedingt mitgucken wollen, sagt nicht nein! Das macht mehr Spass. Weil die Erwachsenen sicher an ganz anderen Stellen lachen werden als ihr. Dann könnt ihr ungestört an den Stellen lachen, wo nur ihr lacht!
3. Für Abende mit verstorbenen Grosseltern und Single-Groove: Beginners
Heute beim Erwachen schon gelacht? Gut! Dann darf es etwas Melancholisches sein. Hier kommt er, der Film für stille Lacher: Beginners. Kein lauter Film. Aber mit lauter leisen Augenblicken. Wenn ich mich recht entsinne, wird nur einmal wirklich gebrüllt: Zum Feuerwerk. Ansonsten erzählt der Film in zarten Tönen, mit kleinen Gesten, aus sehnsüchtigen Gefühlen die Geschichte eines Sohnes, der seinen Vater in den Tod begleitet und sich selber ins Leben. Auf den ersten Blick scheint viel in diesen Anfänger-Film gepackt: Der Vater, der Krebs, das Outcoming, die Mutterliebe. Und ein Hund der mit einem spricht. Nach einer lebenslanger Ehe mit Frau und Sohn und Hund und Familienleben gesteht der alte Vater dem Sohn, dass er Männer liebt, immer geliebt hat, und zieht mit seinem Geliebten zusammen: Das Leben des Sohnes steht Kopf. Im Kopf tauchen neue Fragen auf. Zur Vergangenheit, zur Liebe. Zur Existenzberechtigung der Trauer. Zum Sinn einer Rebellion. Zur Glaubhaftigkeit der Liebe. Wir folgen dem Sohn in sein Leben, das zunehmend in der Melancholie versinkt. Nichts kann ihn retten: Nicht die Hilfestellungen für den sterbenden Vater. Nicht seine Begegnungen mit dem Geliebten des Vater. Nicht seine Freunde. Wenn nicht etwas Einschneidendes passiert, wird er untergehen, das weiss er: Da passiert es: Eine Frau tritt in sein Leben, wie das Leben selbst: Unberechenbar, hellsichtig und lebensfroh. Da sieht sich der Werber mit einem Mal eine Frau umwerben, mit der er, der Skeptiker für immer zusammen sein will. Aber das geht natürlich auch schief: Verliebt und verloren kommt er einem Verlust zuvor, in dem er sie wegstösst. Das heisst, es darf etwas dauern, ehe er sie wiederfindet, wie das Leben: überraschend heiter! Beginners ist einer der Filme, die einem mit dem Gefühl, die Menschen zu lieben, aus dem Kino entlässt. Mit einem wunderbaren Schauspielerensemble. Und einem Hund. Ewan McGregor (The Ghost Writer), Melanie Laurent (Je vais bien, ne t’en fais pas), Christopher Plummer (Nicholas Nickleby) sind ein souveränes Trio um Cosmo (den Hund).
Anstatt den Trailer empfehle ich:
Wer die drei Minuten mag, mag auch Beginners. Für Anfänger ab 12
4. Für Schüchterne, für Liebhaberinnen der Schokolade: Les Emotifs Anonymes
Bei den Schtis ging die Reise nordwärts. Die Emotifs von Jean-Pierre Améris führen uns ins Landesinnere – der Gefühle. Wieder geraten wir in ein verschrobenes Frankreich, wieder sind SchauspielerInnen der Extraklasse unsere Reisebegleiterinnen. Da ist die verkannte Angelique, die Chocolatière der Extraklasse, die Panikattacken kriegt, wenn sie erkannt wird. Und da ist Jean-René, der Schokoladenproduzent, der nach jedem Schweissausbruch das Hemd wechseln muss. Ausgerechnet diese beiden treffen aufeinander, wie zwei verwirrte Kinder. Das klingt schrill. Ist es aber nicht. Diese Wesen scheitern leise. Sie gehören nicht zu den Lauten. Sie sind keine Worteklauber oder Phrasendrescherinnen. Hier sind zwei zum Umfallen scheu. Sie sind fast immer verlegen, um Worte, um Siege, um Triumphe, nicht aber, wenn es um Schokolade geht: Bei ihrer Herstellung wirkt der Sog der Liebe. Aber wie sollen diese beiden denn nun zusammenkommen? Zuviel spricht dagegen, und Benoit Poelvoorde und Isabelle Carré lassen keine Praline aus. Der Patron ist bald bankrott. Die Chocolatière keine Verkäuferin. Und beide sind Meister im Gefühleverstecken. Wären da nicht die Teilnehmerinnen der Psychopruppe, wären da nicht eine Reihe zauberhafter Zufälle, wäre da nicht die Belegschaft der Schokoladenfabrik, die beiden würden vielleicht wie zwei verdrehte Magnete aneinander abprallen. Aber es kommt wie bei einer guten Praline: Erst hart, dann zartschmelzend und plötzlich mit vollem Geschmack: Es kommt es zu einem zartbitteren Schokoschluss, dessen Rezeptur nicht verraten werden soll: Nach all der Blockbusterschokolade eine Praline.
5. Wenn sie mit allem eins sein wollen, mit Gott und der Welt: Des Hommes et des Dieux.
Es ist ein stiller Film. Er ist zeigt Menschen beim Beten, beim Holz tragen, beim Singen, beim Schweigen, beim Menschen pflegen. Ja, meist wird nicht geredet im Trappistenkloster im algerischen Tibhirine. Meist leben die Mönche ihren Alltag, demütig und isoliert von der Welt. Aber ebenso leise wie der Film das Leben der Mönche erzählt, sickert die kriegerische Welt in den Alltag der Menschenfreunde: Unter den Patienten sind plötzlich muslimische Kämpfer. Plötzlich ist die einzige Arztpraxis weit und breit Anlaufstelle für Verletzte Kämpfer. Der Bürgerkrieg rückt näher. Alles spricht für Flucht, dafür, das Kloster zu räumen, die Menschen im Stich zu lassen, denen man Arzt und seelische Hilfe ist und eine andere Mission zu suchen. Doch die Mönche entscheiden sich zu bleiben: Aus Demut wird Mut. Aus Schutz ein Geschütz. Mission wird zu „Mission impossible“. Jetzt sind die Männer eine Provokation für die Militärs wie für die Terroristen. Sie harren aus und ebenso bescheiden, wie sie gelebt haben, verschwinden sie im Film, von Terroristen entführt – wie man erfährt in den grausamen Tod geschickt. Ohne religiöse Wertung schafft es der Film, die Frage nach der Religion hinter jene nach dem Glauben an den Menschen zu stellen. So besinnlich darf man Schauspieler selten sehen (u.a. immerhin Lambert Wilson (Matrix)). Für die Tage gerade richtig.
6. Wenn Sie Widerstand gerne in der Phantasie leisten: MICMACS
Mit «Amélie» hat er Paris und die Welt verzaubert. Jetzt tut es Jean-Pierre Jeunet, der auch Erfinder der «Mathilde» und der «Delikatessen» ist, wieder, und wieder schafft er mit seiner Truppe von Sonderlingen, traumgefärbte Kino-Bilder in einer liebenswert abseitigen Phantasiewelt. Diesmal ist der Held ein DVD-Verkäufer, dessen Vater einst beim Entschärfen einer Tretmine starb. Bei einer Schiesserei von Unbekannten gerät ihm eine irregeleitete Kugel in den Kopf, die dort stecken bleibt, und fortan in seinem Hirn sitzt, ganz nahe bei der Erinnerung an seinen Vater. Er verliert durch den Schicksalsschlag seine Wohnung, seinen Job, nicht aber seinen Verstand: Die Kugel ist vom selben Herstellers, der auch die Mine produzierte, die seinen Vater getötet hatte, und diese Kugel, die ihm das Schicksal da in den Kopf gesetzt hat, lässt unseren Antihelden nicht mehr los: Mit Hilfe einer liebenswerten Truppe von Tinguelys, von Gebrauchtwarenkünstlern und Lebensjongleuren, sucht er die Hersteller der Minen und Kugeln, findet sie, bringt die beiden Chefs auf und spielt sie in Agentenmanier gegeneinander aus, bis sie sich gegenseitig lahm legen. Mit verspielter Komik und in rasanter Erzählgeschwindigkeit jagt uns der Film durch humanen Erfindungsreichtum und soziale Widerständigkeit. Mit Dany Boon («Schtis») und Yolande Moreau («Séraphine») zeigt die Truppe skurrilen französischen Schauspielerreichtum und eine zauberhafte Sammlung französischer Cinéphantaisie.
7. Wann hat ihre Familie zum letzten Mal gestritten? Hier wäre ein Grund: The Tree of Life
Da ist ein Todesfall. Da ist ein autoritärer Vater. Da sind die Kinder, die ins innere Exil fliehen. Und da ist eine Mutter, die die
Familie zusammenhalten will. Je tiefer die Handlung in das autoritäre Familienmilieu eindringt, desto drohender scheint uns die Tragödie, bleibt doch vieles in «The Tree of Life» rätselhaft und unserer eigenen Deutung überlassen. Der Regisseur Terrence Malick und sein Team wollen es uns nicht leicht machen. Es gibt keinen Vatermord. Es gibt keine Trennung. Nicht einmal vom Tod des Sohnes erfahren wir viel mehr, als dass er verunfallt. In betörenden Bildern schleudert Malick uns immer wieder aus der Familienstory in die Schöpfungsgeschichte hinaus, ins All, oder hinein, ins Innere der Zellen. Wir bräuchten diese Bilderflut nicht, um die Familiengeschichte zu verstehen. Aber nicht jeder Apfel der Erkenntnis fällt vom Stamm. Man muss die Äpfel schon selber pflücken. Vieles bleibt mehr rätselhaft als geheimnisvoll. Aber jedes Bild bleibt der Magie des Kinos verpflichtet: Selten hat man die Nöte eines Kindes, dass mit dem Hass auf seinen Vater leben will, so stilsicher geschildert gesehen. Wie der Junge da um den dünnen Wagenheberhebel herumschleicht, der das 3-Tonnenauto über seinem Vater festhält, ist einfach beängstigend schlicht geschildert. Die grandios agierenden Kinderfiguren locken uns immer wieder an den Rand des Abgrundes, mitten in ihre Phantasien. Der Film stösst uns in deren Kosmos, mit Leichtigkeit und heftigen dramaturgischen Sprüngen, manchmal gar am Rande des Kitsches, aber immer mit dem Zauber der erbarmungslosen Beobachtung. Nie haut «The Tree of Life» uns eine
Erkenntnis auf die Nase. Selbst in seinen esoterischen Visionen fordert er unser Staunen mehr als unser Verstehen. Er lässt uns die
Katastrophe erwarten, oder eben nicht. In Cannes wurde der Film ausgebuht. Und mit der goldenen Palme bejubelt. Also gilt hier
Vorsicht, Kinder, ab 12: Das ist eine Einstiegsdroge: Wer diesen Film so gut findet, dass er ihn verstehen will, dass er über ihn streiten will, der wird sich danach im Kino nicht mehr mit Fastfood begnügen. Oder höchstens mal zum chillen. Aber bitte, das mit dem Finger vor dem Lauf des Luftgewehrs nicht nachmachen! Das ist nicht das einzige, was wehtun würde, wenn man nach diesem langen Film wieder auf die Erde zurückkommt.
Falls Sie wissen möchten, wie unsere Auswahl zustande gekommen ist: Wir haben die beiden Jungkritiker für Sie im Abschluss-Gespräch belauscht: