Die Favoriten mit dem langen Atem

An der WM am Zuckerhut beginnt die heisse Phase. Die Fussball-Stars begeistern in Brasilien mit attraktivem Spiel und Mut zum Angriff. Rekorde sind schon gefallen. Eine Bilanz bisheriger WM-Trends.

Der Schaum-Spray der Schiedsrichter - an der WM gut angekommen (Bild: SI)

An der WM am Zuckerhut beginnt die heisse Phase. Die Fussball-Stars begeistern in Brasilien mit attraktivem Spiel und Mut zum Angriff. Rekorde sind schon gefallen. Eine Bilanz bisheriger WM-Trends.

Nach den quasi durchweg dramatischen Achtelfinals, mit einem nach 76 Jahren eingestellten WM-Rekord von fünf Partien in der Verlängerung, staunen Experten wie Fans über die Fortsetzung des Power-Fussballs beim Turnier am Zuckerhut. Die Trends sind eindeutig. Nur wer über einen langen Atem verfügt, kann sich Hoffnung auf den Triumph am 13. Juli im legendären Maracanã machen.

DIE FAVORITEN: Nach dem frühen Ausscheiden der drei (Ex)-Champions Spanien, Italien und England wurde schon über eine WM der Aussenseiter gemunkelt. Das Fussball-Establishment schlug aber adäquat zurück. Mit Brasilien, Deutschland, Argentinien, Frankreich, Kolumbien und Holland wurde in den Viertelfinals gerechnet. Belgien galt immer als Geheimfavorit. Nur Costa Rica hatte niemand auf dem Zettel. Aber: Seit 2002 standen nicht mehr so wenige ehemalige Champions unter den letzten Acht – nur vier Ex-Weltmeister. Und nur fünf der acht bei der Auslosung im Dezember (wie die Schweiz) als Gruppenköpfe gesetzten Teams sind noch dabei.

DUELL DER KONTINENTE: Der viel beschworene Heimvorteil Südamerikas erscheint im Turnierendspurt nicht mehr so massgeblich. Im Vergleich zur WM 2010 hat Europa das Viertelfinal-Verhältnis sogar von 3:4 auf 4:3 gedreht, begünstigt allerdings auch durch zwei direkte Duelle des Gastgeber-Kontinents in den Achtelfinals. Im direkten Vergleich steht es bei einem Remis derzeit aber 7:2 für Südamerika. Das Pech der Auslosung: Nur zwei Südamerika-Vertreter können unter die besten Vier kommen. Immerhin: Das gelang seit der bislang letzten Südamerika-WM 1978 in Argentinien nicht mehr, als der Gastgeber gewann und Brasilien Dritter wurde.

TORQUOTE: Es rappelt in Brasilien. Der Toreschnitt ging zwar in den K.o.-Spielen leicht zurück, ist mit 2,75 Treffern pro Partie nach 56 Spielen aber immer noch auf dem höchsten Niveau seit 1982 (2,81). Die anfangs attackierten 2,97 Tore pro Spiel von Mexiko 1970 sind aber etwas aus dem Blick geraten.

FAKTOR KONDITION: Viel wurde über das Thema Fitness diskutiert. Jetzt ist klar: Weltmeister wird nur, wer über eine ausserordentliche Kondition verfügt und vor allem im entscheidenden Moment noch zulegen kann. Je länger das Turnier dauert, desto wichtiger wird eine gute Physis. Sieben der acht Achtelfinals wurden entweder in den letzten zehn Minuten oder erst in der Verlängerung oder im Penaltyschiessen entschieden. Nur Kolumbien reichten gegen Uruguay Tore vor der 80. Minute zum Einzug in die Viertelfinals.

SUPERSTARS: Neymar, Lionel Messi, Arjen Robben, Karim Benzema und Thomas Müller. Grosse Namen bestimmen das Turnier. Mehr als 2006 oder 2010 schaffen es die Superstars, der WM mit Toren ihren Stempel aufzudrücken. Einer überstrahlt vor den Viertelfinals aber alle mit einem Lächeln, das die Fussball-Welt verzückt. Kolumbiens James Rodriguez, vor dem Turnier nur Insidern bekannt, rockt die WM und feiert seine Tore gerne mit einem kessen Tänzchen. Fünf Treffer sind bislang der Bestwert. Jetzt misst sich der 22-Jährige im Viertelfinal mit dem gleichaltrigen Neymar.

JOKER: Die Fussball-Weisheit «Elf Freunde müsst ihr sein» war selten so antiquiert wie in Brasilien. Mit elf Spielern erreicht man am Zuckerhut gar nichts. Noch nie war die Bank so wichtig: 28 Tore wurden von Einwechselspielern erzielt. Das ist WM-Rekord. Fünf der Treffer bescherten dem Team einen Sieg. Zweimal sorgten Joker-Tore für ein Unentschieden. Dem Holländer Memphis Depay gelangen zwei Joker-Tore, mit insgesamt vier Toren stellt das Team von Bondscoach Louis van Gaal gemeinsam mit den Belgiern von Marc Wilmots die treffsicherste Ersatzbank. Belgien schaffte drei seiner vier Siege durch Tore von eingewechselten Spielern.

TORHÜTER: Das Offensivspektakel sollte die Torhüter zu armen Teufeln machen, könnte man meinen – doch weit gefehlt. Nur der Russe Igor Akinfejew patzte gleich zweimal. Andere Keeper wurden wegen toller Leistungen gefeiert. Manuel Neuer als deutscher «Libero» oder Keyor Navas als Nationalheld Costa Ricas. Der Algerier Rais Mbolhi brachte Deutschland lange zur Verzweiflung und auch Nigerias Vincent Enyeama hielt bis zu seinem Patzer gegen Frankreich famos. US-Keeper Tim Howard parierte gegen Belgien 16 Schüsse: WM-Bestmarke seit 1966.

SCHIEDSRICHTER: Diese Männer brauchen Hilfe, meint Joseph Blatter. Und ganz unrecht hat der FIFA-Präsident nicht. Der Videobeweis könnte viel Druck von den Schiedsrichtern nehmen. In Brasilien begann das Turnier für die Referees mit einer Serie desaströser Fehler. Das Spiel wird immer schneller, da könnten weitere technische Hilfsmittel neben der erfolgreich praktizierten Torlinientechnik oder dem erst belächelten und jetzt willkommenen Freistossspray sinnvoll sein. Doch längst nicht alles lief schlecht. Gerade in den Achtelfinals zeigten auch die Schiedsrichter Weltklasseleistungen.

STIMMUNG: Was für eine Party! 2’911’381 Fans bei den Spielen in den Stadien. Millionen Menschen bei friedlichen Fussball-Feiern auf den Strassen. Der Rest der Fussball-Welt bekommt gezeigt, was Fussball in Südamerika bedeutet. Emotionen. Hingabe. Ekstase. Leid. Die Gesänge in den Fussballtempeln sind elektrisierend und lassen erahnen was passiert, wenn am 13. Juli ein Team des Heimatkontinents gewinnt. Dass die Leidenschaft auch ins Negative umschlagen kann, wurde beim Sturm der Chile-Fans ins Maracanã deutlich.

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