Die Geschichte unseres Lebens

«Wir Heuchler!», schrieben Marc Krebs und Philipp Loser im Mai und zeigten die Inkonsequenz unseres Alltags auf. Leser Jonas Eggmann hat den Gedanken weitergedacht – sein lesenswerter Gastbeitrag zum Thema. Als vor knapp zwei Monaten die Buchhandlung «Nasobem» ihre Schliessung bekannt gab und eine grosse Welle des Bedauerns in den sozialen Netzwerken losging, veröffentlichte die […]

Leser Jonas Eggmann hat sich Gedanken zum Heuchler in uns allen gemacht.

«Wir Heuchler!», schrieben Marc Krebs und Philipp Loser im Mai und zeigten die Inkonsequenz unseres Alltags auf. Leser Jonas Eggmann hat den Gedanken weitergedacht – sein lesenswerter Gastbeitrag zum Thema.

Als vor knapp zwei Monaten die Buchhandlung «Nasobem» ihre Schliessung bekannt gab und eine grosse Welle des Bedauerns in den sozialen Netzwerken losging, veröffentlichte die «TagesWoche» einen Kommentar, der die Inkonsequenz unseres Lebens anprangert: Auf der einen Seite sind wir jedes Mal bestürzt, wenn ein kleines sympathischen Geschäft wie das «Nasobem» aus finanziellen Gründen schliessen muss, auf der anderen Seite kaufen wir aber einen Grossteil unserer Bücher im Thalia oder bestellen es direkt bei Amazon.

Im Speakers Corner veröffentlichen wir Texte, die von Leserinnen und Lesern verfasst wurden.

Der vorliegende Beitrag von Jonas Eggmann erschien zunächst auf seinem Blog. Eggmann ist 18 Jahre alt, Schüler und interessiert sich für Politik, Journalismus, Fussball und Webdesign.

Die Redaktion führte ein paar Beispiele für ihre Aussage auf, je länger man über diese Beispiele nachdenkt, desto mehr eigene Beispiele kommen einem in den Sinn: Wir sehnen das Ende der Atomenergie herbei, wollen jedoch um keinen Preis weniger Strom verbrauchen. Wir sind empört über das Ausmass des Überwachungsprogramms «Prism» des US-Geheimdienstes, geben aber völlig freiwillig einen tiefen Einblick in unser Privatleben, indem wir Dienste von Google, Apple, Microsoft, etc. überhaupt erst nutzen. Beschweren tun wir uns über das Spähprogramm selbstverständlich auf Facebook oder Twitter.

Proteste bejubeln, Grenzen schliessen

Über Sepp Blatter und sein Gefolge machen wir uns seit Jahren lustig, das Panini-Stickeralbum darf aber in keinem WM-Jahr fehlen. Die Nachrichten über die Bürgerproteste beim diesjährigen Confederations Cup beschäftigen uns natürlich, die Forderung der brasilianischen Bevölkerung nach sinnvolleren Investitionen als Fussball-Weltmeisterschaften und Olympische Spiele unterstützen wir, das nachfolgende Spiel lassen wir uns aber nicht entgehen. Und dass die WM in Katar vergeben wurde, finden wir zwar skandalös, aber deswegen den Fernseher während der WM auszuschalten? Geht’s noch! Wir fluchen über die Kommerzialisierung des Fussballs und erwarten gleichzeitig die besten – gleichbedeutend mit den teuersten – Spieler beim eigenen Verein.

Wir beklagen den Niedergang des Journalismus, der tiefgründigen Reportagen und differenzierten Analysen, lesen aber keinen Text, der länger als eine halbe Seite ist. Geld geben wir für journalistische Texte sowieso keines mehr aus, heutzutage gibt es ja alles gratis im Internet. Schliesslich freuen wir uns sowohl über den Arabischen Frühling, als auch über die Proteste in der Türkei und unterstützen die Forderung nach mehr Demokratie. Wenn es jedoch als Begleiterscheinung davon zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zu Bürgerkriegen kommt und die Menschen deswegen fliehen, verschärfen wir unsere Asylgesetze.

Für Merkel und gegen Mindestlohn

Diese widersprüchliche Haltung ist natürlich bereits von anderen Leuten beobachtet worden. Zum Beispiel von Laurin Buser, der in seinem «coolen Text über Naturschutz» die Umweltpolitik von so manchem Parlament entlarvt. Letztlich ist der Text aber vor allem eine Kritik an unserem persönlichen Verhalten. Und wenn wir gerade beim Thema Kunst sind: Volker Pispers beginnt sein Bühnenprogramm, indem er sich darüber amüsiert, dass seine Zuhörerinnen und Zuhörer seine Texte zwar überaus unterhaltsam finden, dass sie auch verstehen, dass Pispers Pointen viel mehr sind, als «sich lustig machen auf Kosten eines Witzes», An ihrem Lebenswandel werden seine Fans jedoch nichts ändern. Politisches Kabarett dient ihnen als angenehme Gewissensbereinigung, bevor sie wieder ungeniert Angela Merkel wählen gehen und sich gegen einen Mindestlohn aussprechen.

Paul Krugman schrieb vor kurzem «die Geschichte unserer Zeit». «Wir Heuchler!» ist die Geschichte unseres Lebens.

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