Die Initiative gegen Masseinwanderung würde die Schweiz zur Rosskur zwingen

Mit der Intiative gegen die sogenannte Masseneinwanderung führt die SVP eine umstrittene Diskussion an. Doch was fordert sie eigentlich im Einzelnen? Vor der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP am 9. Februar häuft sich die Kritik an den Forderungen. Auch die TagesWoche berichtete, zum Beispiel aus wirtschaftlicher oder aus stadtplanerischer Sicht. Unser Community-Mitglied Alois Karl Hürlimann […]

Die SVP befürchtet zu viele Lamas unter den weissen Schafen.

Mit der Intiative gegen die sogenannte Masseneinwanderung führt die SVP eine umstrittene Diskussion an. Doch was fordert sie eigentlich im Einzelnen?

Vor der Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative der SVP am 9. Februar häuft sich die Kritik an den Forderungen. Auch die TagesWoche berichtete, zum Beispiel aus wirtschaftlicher oder aus stadtplanerischer Sicht. Unser Community-Mitglied Alois Karl Hürlimann stellt nun die Frage: Was steht eigentlich genau im Initiativtext der SVP, und wie wären die Folgen für die Schweiz?

 

1. Der Inhalt der Initiative:

Art. 121a der Bundesverfassung soll neu wie folgt lauten:

  1. «Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.»
  2. «Die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz wird durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente begrenzt. Die Höchstzahlen gelten für sämtliche Bewilligungen des Ausländerrechts unter Einbezug des Asylwesens…»

In Absatz 3 des neuen Bundesverfassungsartikels wird verlangt, dass 

  • die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz,
  • der Vorrang für Schweizerinnen und Schweizer und
  • der Einbezug der Grenzgängerinnen und Grenzgänger nebst
  • Bedürfnissen der Arbeitgeber sowie die Integrationsfähigkeit und eine «ausreichende, eigenständige Existenz» massgebende Kriterien für die Zulassung von «Ausländern» in der Schweiz darstellen müssen.

Schliesslich sollen «Übergangsbestimmungen» der Bundesverfassung geändert werden. 

Wörtlich:

«Völkerrechtliche Verträge, die Art. 121a widersprechen, sind innerhalb von drei Jahren nach dessen Annahme durch Volk und Stände neu zu verhandeln und anzupassen.»

2. Was bedeutet dieser Inhalt ?

Die  Verfassungs-Initiative verlangt, dass die Schweiz innerhalb von drei Jahren, also bis zum 8. Februar 2017 den Vertrag der Schweiz mit der EU in Sachen «Personenfreizügigkeit» im Sinne des neuen Artikels 121a der Bundesverfassung  «neu verhandelt» und ein «neues» Abkommen ratifiziert sein muss.

Alle völkerrechtlichen Verträge, welche die Schweiz in Sachen Ausländerrecht inklusive Asylrecht rechtlich binden, müssen bis zum 8. Februar 2017 ebenfalls neu verhandelt und ratifiziert werden. Dies  wegen folgender Begriffe im Initiativtext:

  • jährliche Höchstzahl einer Kontingentierung inklusive «Einbezug des Asylwesens»;
  • Vorrang für Schweizerinnen und Schweizer;
  • Bedürfnisse der Arbeitgeber.

Diese Bestimmungen betreffen die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU, aber auch die UN-Menschenrechtscharta, die europäische Menschenrechtskonvention, das schweizerische Asylrecht sowie beispielsweise die alltäglichen rechtlichen und existentiellen Interessen von über 400’000 Schweizern, welche in den EU-Staaten leben und arbeiten.

Für die Neuverhandlung sowohl mit der EU als auch mit anderen, zur Zeit aus wirtschaftlicher und vertragsrechtlicher Sicht ausschliesslich potentiellen, nicht realen «Partnern» hätte «die Schweiz» bloss  sehr eingeschränkten Verhandlungsspielraum, wenn sie den neuen Verfassungsartikel internationaldurchsetzen muss.

Warum?

Die einzelnen Punkte, welche mit der Verfassungsintiative durchgesetzt werden sollen, widersprechen zahlreichen bilateralen Verträgen und völkerrechtlich bindenden Rechtsnormen. Insbesondere trifft dies zu auf die folgenden Aussagen des Initiativtextes zu:

  • jährliche Höchstzahl respektive jährliche Kontingentierung,
  • Vorrang der Schweizerinnen und Schweizer, 
  • Einbeziehung der Grenzgängerinnen und Grenzgänger unter das «jährliche Kontingent»
  • Einbezug des «Asylwesens» unter «jährliche Kontingenthöchstzahl» und die 
  • Dreijahresfrist für Neuaushandlungen. 

Dies alles ist  – völkerrechtlich verstanden – weder mit der EU insgesamt noch mit den meisten anderen Partnerstaaten, weder mit der UNO oder auch dem Europarat (mitsamt der Wirksamkeit des europäischen Menschengerichtshofes, in dem die Schweiz Vollmitglied ist) inhaltlich mehr oder weniger dem postulierten Artikel 121a entsprechend, geschweige denn buchstabengetreu zu erreichen. 

Mit anderen Worten:

Die Annahme der SVP-Initiative führt die Schweiz innerhalb eines Zeitraums von 3 Jahren in eine Isolation, die selbstredend auch Auswirkungen auch auf die Wirtschaft, vor allem aber auf den Alltag der «Schweizerinnen und Schweizer» haben wird. Diese Isolation ist durch das Umfeld der Schweiz, nämlich durch das System der EU, das System der UNO, das System OECD, durch die ILO und zahlreiche weitere völkerrechtlicher Verbindlichkeiten gegeben. 

Daraus folgt:

Die schweizerische Diplomatie ist bei Annahme der Initiative sofort heillos überfordert, und zwar sowohl inhaltlich als auch zeitlich.

Und:

Die potentiellen Verhandlungspartner, ohne die es weder Verhandlungen noch neue Abkommen im Sinne der SVP geben wird, sind wiederum sowohl inhaltlich als auch zeitlich in keiner Art und Weise mit einem bestimmten Erfüllungstermin gefordert, supranational rechtssystemisch im übrigen schon gar nicht.

Sollte der Zeitraum von drei Jahren nicht reichen, um die wegen der zwangsweise erforderlichen Kündigung bestehenden, notwendigerweise neu zu verhandelnden Verträge zum Abschluss zu bringen, haben die Initiatoren den folgenden Passus in ihre «Übergangsbestimmungen» aufgenommen:

«Ist die Ausführungsgesetzgebung zu Artikel 121a drei Jahre nach dessen Annahme durch Volk und Stände noch nicht in Kraft getreten, so erlässt der Bundesrat auf diesen Zeitpunkt hin die Ausführungsbestimmungen vorübergehend auf dem Verordnungsweg.»

«Ausführungsbestimmungen» sind natürlich im Sinn und Geist des Initiativtextes, also des neuen Artikels 121a der Bundesverfassung, zu gestalten. 

3. Absehbare Folgen bei einer Annahme der Initiative

3.1) Innerhalb der Schweiz:

  • Es müssen 26 kantonale Behördenstellen für den Vollzug des Art.121a in den Kantonen geschaffen werden, welche «die Bedürfnisse der Arbeitgeber» sowie «die Integration» und die «ausreichende, eigenständige» Existenz jeder Ausländerin, jedes Ausländers vor seiner Arbeitsgesuchsstellung in der Schweiz abklären und darüber Entscheidungen treffen.
  • Es muss auf Bundesebene eine Koordinationsbehörde für die Kontingentierung der Ausländerzahl in der Schweiz geschaffen werden.
  • Die Verwaltungsgerichtsbarkeit muss sowohl kantonal als auch auf Bundesebene massiv ausgebaut werden, um der mit Sicherheit massiv ansteigenden Flut von Beschwerden und Einsprüchen gegen vollzugsbehördliche Beschlüsse und Verordnungen Herr zu werden.
  • Der gesamte Grenzverkehr muss wahrscheinlich auf die Verhältnisse vor «Schengen» zurückversetzt werden. Was nicht nur für die Einreise in die Schweiz, sondern für Schweizerinnen und Schweizer auch für die Einreise in die Nachbarstaaten gelten wird. Dies gilt, man sollte sich diesbezüglich keinerlei Illusion hingeben, auch für den Export in die EU. Und damit für schweizerische Unternehmen für die Frage des Standortes ihrer Produktion.
  • In gewissen Arbeitsbereichen werden innert kürzester Zeit grosse Probleme auftauchen:

          im Gesundheitsbereich; 

          im Pflegebereich, vor allem im Alterspflegebereich; 

          im Bildungsbereich, insbesondere im mittleren Lehrbereich sämtlicher Hochschulen sowie bei Erasmus; 

          im Forschungsbereich, unter anderem in der Pharmaindustrie; 

          vor allem aber im gesamten Dienstleistungsbereich.

  • Die Anpassungen an den neuen Artikel 121a werden im konkreten Alltag mindestens zu Spannungen führen, welche das hochkomplizierte System namens Schweiz rasch überfordern können. 
  • Eine Annahme der Initiative wird die Migrationsdebatte – eine immer wieder notwenig zu führende soziokulturelle, ökonomische wie rechtsstaatliche  Debatte – auf viele Jahre hinaus vollends vergiften. Nicht zuletzt, weil die rechtzeitige Umsetzung des Verfassungsartikels praktisch unmöglich sein wird.

Weil diese Unmöglichkeit absehbar ist, hat sich die SVP ein Instrument namens «Übergangsbestimmungen» geschaffen, mit dessen Hilfe sie «die anderen» je nach Lust und Laune des «Verfassungsbruchs», der «Untätigkeit», mit Hilfe weitgefächerter Demagogie in Detailfragen auf Kosten «der» Ausländer vor sich hertreiben könnte. 

Wird die Initiative abgelehnt, steht ihr dieses Instrument nur in Form ihrer Propaganda zur Verfügung. Seine Wirksamkeit wäre nicht annähernd so aufgeladen wie im Fall der Annahme ihres «Masseneinwanderungsartikels» in der Verfassung.

3.2) Ausserhalb der Schweiz

Wer ausserhalb der Schweiz wartet auf die Annahme dieser Initiative ?

Vielleicht der Front National in Frankreich, die FPÖ in Österreich, die eingeschworenen EU-Gegner in Grossbritannien, die Lega Nord in Italien (diese vermutlich aber eher sehr eingeschränkt, wenn sie an ihre Wählerinnen und Wähler, welche im Tessin als Grenzgänger arbeiten, denkt) und andere Verwandte der SVP-Ideologen europaweit.

Sonst wartet in der EU ersichtlich niemand auf das Neuverhandeln mit der Schweiz. 

Im übrigen:

Die Interessen der einzelnen EU-Staaten an den Handelsbeziehungen mit der Schweiz sind äusserst heterogen. Vertragsverhandlungen der EU mit Drittstaaten werden EU-intern nach deren systemischer Struktur vorbereitet und beschlossen, nicht mit Vorstellungen, welche die schweizerische SVP «annimmt». Das heisst: Es wird keine Verhandlungen der Schweiz mit einzelnen EU-Staaten über irgend ein Detail geben, welches nach EU-Recht die EU mit Drittstaaten verhandelt.  

Eine Dreijahresfrist für Neuverhandlungen samt Abschlüssen ist, jenseits inhaltlicher Betrachtung, gegenüber der EU schlicht realitätsblind. 

Inhaltlich sind die Vorstellungen der SVP über die praktische Abschaffung des bilateralen Vertrages zur  Personenfreizügigkeit innerhalb der EU weder im Ansatz noch als Ganzes ein Thema, das  der Ministerrat, das EU-Parlament oder die EU-Kommission als Einzelverhandlungspunkt am Verhandlungstisch mit der Schweiz,  nachdem diese diesen Einzelpunkt durch Kündigung aus dem Gesamtwerk des Vertragswerks mit der EU herausgeschnitten hätte, auch nur beraten würde. Viel wahrscheinlicher ist, dass die EU alle bilateralen Verträge mit der Schweiz von sich aus kündigen würde.

4. Fazit 

Die Annahme der «Initiative gegen Masseneinwanderung» würde «die» Schweiz in eine Rosskur zwingen. Die Frage, was diese Rosskur bezwecken soll, wird von der SVP nicht gestellt. Dafür gibt sie eine «endgültige» Antwort auf «alle» Fragestellungen in Sachen «Einwanderung», genauer, auf alles, was diesbezüglich die EU und die Schweiz betrifft: Sie behauptet, die Schweiz habe ausschliesslich wegen der «Masseneinwanderung» aus der EU ein Leiden. Werde diese «Masseneinwanderung» gestoppt, sei alles gut, idyllisch, altschweizerisch. Der Wohlstand für Schweizerinnen und Schweizer sei für alle Ewigkeit gesichert und die Souveränität gegenüber «dem» Ausland gerettet. Die Schweiz könne ohne Blessuren weiterleben, wenn man ihr die SVP-Kur angedeihen lasse. 

Was ist aber, wenn die Realität der Schweiz in vielerlei Hinsicht eine völlig andere ist, als von der SVP behauptet? 

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