Die Intimität der Intimität

Am preisgekrönten französischen Film «La Vie d’Adèle» scheiden sich die Geister.

Am preisgekrönten französischen Film «La Vie d’Adèle» scheiden sich die Geister.

Abdellatif Kechiche hat mit seinen Schauspielerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos für «La Vie d’Adèle» in Cannes eine Goldene Palme erhalten. Herausragend ist der Film nicht nur in seiner Länge: Drei Stunden folgt er freizügig einer Schülerin auf dem Weg zu ihrer Berufung. Auch die heissen Diskussionen danach machen ihn zu einer Provokation der Sinne.

Erst kam der Film bei den Kritikern an. Dann beim Publikum. Dann landete er im Intimbereich der Chatterinnen. Dann folgte die Diskussion in ganz Frankreich über den Film. Dann begann die Film-Crew öffentlich über die Arbeit zu plaudern. Die Techniker monierten die unfeinen Arbeitszeiten. Dann gaben die Schauspielerinnen Details ihrer Drehzeit preis. Der Regisseur mimte die beleidigte Diva. Plötzlich wollte sich niemand mehr am Erfolg freuen. Der mediale Schaumschlag war rasch obszöner als der Film selbst.

Frisch und unverbraucht

Was sich in der Drehzeit begeben haben mag, darüber darf in Chats und Schnell-Kommentaren spekuliert werden. Was die Beteiligten mit ihren Plaudereien danach an den Tag gebracht haben, ehrt eher die Schauspielerinnen und den Regisseur in ihrer Scheu vor so viel ehrlicher Öffentlichkeit. Es zeigt aber vor allem die Geilheit der Öffentlichkeit nach künstlerischer Intimität: Das, was sich diese Künstlerinnen abverlangen liessen, hat im Film eine grosse Authentizität, gerade weil der Mut und die Exzentrik frisch und unverbraucht spürbar sind. Eine brillante Provokation entsteht selten nur aus routiniertem Kalkül. Routiniert ist eher der Medienrummel, der dann aus etwas gemacht wird, was eigentlich noch intimer ist als jede Liebesszene: der künstlerische Prozess.

Er führt durch wesentlich mehr Privatheit oder emotionale Herausforderung zu einem Resultat, das am Ende vielleicht sogar brav wirkt. Die Suche von Künstlern ist nie an sich obszön, weil es immer auch erwachsene Menschen sind, die das künstlerische Risiko suchen. Obszön wird es erst, wenn man Künstlerinnen über derart Intimes öffentlich so lange reden lässt, bis es als Teil des künstlerischen Prozesses nicht mehr erkennbar ist.

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Der Film läuft u.a. im Basler kult.kino Atelier.


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