Die Linke ist konservativ und reaktionär geworden – ein Weckruf

Die schweizerische Linke muss mutig werden und Visionen anbieten, findet Gastautor Philipp Auchter. Nur dann findet sie wieder in den Tritt. Die schweizerische Linke steckt fest. Auf die Herausforderungen unserer Zeit findet sie kaum mehr probate Antworten. Unterdessen hat der Sieg an den eidgenössischen Wahlen die rechtskonservativen Kräfte einmal mehr in ihrer Weltsicht bestärkt. Die […]

Die Verlierer der Globalisierung haben sich der Linken angewidert abgewendet. Dabei müssten Linke für jene Menschen einstehen.

Die schweizerische Linke muss mutig werden und Visionen anbieten, findet Gastautor Philipp Auchter. Nur dann findet sie wieder in den Tritt.

Die schweizerische Linke steckt fest. Auf die Herausforderungen unserer Zeit findet sie kaum mehr probate Antworten. Unterdessen hat der Sieg an den eidgenössischen Wahlen die rechtskonservativen Kräfte einmal mehr in ihrer Weltsicht bestärkt. Die schweizerische Linke muss ihre Identität neu überdenken, wenn sie dem fremdenfeindlichen Diskurs von Rechts in den kommenden Jahren Paroli bieten will.

Vielleicht sollte es einmal offen ausgesprochen werden: Bei der Debatte über die Zuwanderung, die nun seit Jahren die politischen Emotionen auf sich bindet, geht es im Grunde um unsere Identität. Der Erfolg in dieser Frage kann der Schweizerischen Volkspartei nicht abgesprochen werden. Er korreliert derweil mit dem steilen Aufstieg der Schweiz als Marke: Diese «Schweiz», die sich als Label und Qualitätssiegel in unseren Köpfen festsetzen konnte, zieht ihren hohen Wert aus einem erstarkten Konsens, wonach das weisse Kreuz auf rotem Grund für unverfänglich Positives steht: für Integrität, für Sicherheit, für Beständigkeit. 

Angriff auf Mythen zündet nicht

Dem verführerischen Charme der «Swissness», gepaart mit den Bildern einer ländlichen Bauernidylle, mögen sich hierzulande nur wenige entziehen. Bei charmanten Komplimenten fragt man eben ungern nach, ob sie denn auch zutreffend seien. Die linken Parteien hingegen waren nie daran interessiert, sich als grosse Patriotinnen zu präsentieren. Für ihr distanziertes Verhältnis zur offiziellen Schweiz gab es stets genügend Gründe: die späte Einführung des Frauenstimmrechts, die Fichen-Affäre, die Geschäfte mit dem Apartheidsregime in Südafrika, die Despotengelder auf Schweizer Banken, die Kooperation mit Nazi-Deutschland. All dies ist nie richtig ins politische Selbstverständnis der Schweiz vorgedrungen.

In einem Klima der Unsicherheiten scheint der Angriff auf Schweizer Mythen, eine klassische Kampfzone der Linken, noch weniger zu zünden. Angesichts der längst globalisierten Ausbeutungsstrukturen, genügt es nicht mehr, die lieblichen Schweiz-Bilder der Rechten zu torpedieren. Bezeichnend hierfür ist der Umstand, dass eine der bedeutendsten politischen Entscheidungen in Bezug auf die internationale Stellung der Schweiz – die Abschaffung des Bankgeheimnisses für internationale Kunden – politisch beinahe nicht wahrgenommen worden ist.

Weltpolitisch brisante Fragen finden auch in Europa ohne demokratische Mitbestimmung statt.

Der kurze Prozess wurde von internationalen Kräften durchgesetzt, die sich im politischen Spektrum keiner Seite zuordnen lassen. Es gab keine Volksinitiative, kein Referendum und nach vier Jahren auch keine politischen Konsequenzen. Das zerschlagene Bankgeheimnis für ausländische Kunden, so prägend es für unser Land war, wurde nie zum Wahlkampfthema. Der Bundesrat hatte sich dem internationalen Druck beugen müssen und auch die SVP, die sich gerne als Verteidigerin der Schweizer Freiheit hochspielt, hat nur etwas gemurrt und sonst weitgehend geschwiegen. Offenbar weiss auch die SVP, wo die Grenzen ihrer Macht liegen.

Es gehört zu den politischen Ernüchterungen unserer Zeit, dass sich demokratisch legitimierte Entscheidungen nur noch auf ein sehr kleines Spektrum aller möglichen Handlungsspielräume beschränken. Der internationale Wettbewerb, die Bedürfnisse der Märkte, die Notwendigkeit wirtschaftsfreundlicher Rahmenbedingungen, die Globalisierung aller politischen Fragen sind so weit fortgeschritten, dass weder von rechts noch links daran etwas geändert werden kann. Weltpolitisch brisante Fragen finden auch in Europa ohne demokratische Mitbestimmung statt.

Symbolische Demokratie

Man kann sich dieser Ernüchterung fügen und in pragmatischen Schritten eine Mitarbeit in internationalen Gremien anstreben, wie es die Regierungsparteien in der Schweiz lange getan haben. Oder man kann es tun wie die SVP. Sie hat den hungrigen Magen des Volkssouveräns, der mit der Gewissheit aufgewachsen ist, dass er nur das Beste verdient, knurren gehört. Denn hierzulande glaubt eine Mehrheit der Menschen inzwischen, sie könne an der Urne über alles entscheiden. Zu lange hat der wirtschaftliche Erfolg sie darin bestätigt, dass der Wohlstand ihr Schicksal sei.

Wie also den Heisshunger stillen? Die SVP fand eine patente Antwort. Sie würde fortan die mangelnde Kontrolle über internationale Vereinbarungen anprangern und alles, was theoretisch in das Selbstbestimmungsrecht der Schweizer Bevölkerung fällt, rigoros einfordern. Komplette Macht über die Migration, komplette Macht über die eigene Gesetzgebung: So beginnt nun die Schweizer Bevölkerung – und auch in dieser Beziehung ist sie in Europa nichts Besonderes – von ihrem Land Besitz zu ergreifen.

Das Recht auf das eigene Land steht über dem Recht auf Asyl, selbst über den Menschenrechten.

Das Recht auf das eigene Land steht auf einmal über allem: über dem Recht auf Asyl, ja selbst über den Menschenrechten. Die Einforderung der eigenen Macht zeitigt eine derartige Befriedigung, dass sie von Politikern immer aufs Neue vorgetragen werden muss. Dem gesteigerten Kontrollbedürfnis Raum zu geben, ist das eigentliche Rezept gegen die Verängstigung des Volks, die ihm durch die Globalisierung widerfahren ist. Das Rezept feiert seither an der Urne Erfolge.

Diesem Schauspiel steht die Linke nun schon seit einer geraumen Zeit angewidert gegenüber. Sie empört sich über die niedrigen Tricks der Demagogen von rechts und prangert Populismus und Xenophobie an. Doch der Kampf gegen die Angst vor der Zuwanderung, die im Sorgenbarometer ganz oben steht, wird nicht zu gewinnen sein. Nicht bei der gegenwärtigen Weltlage. Bei aller Abscheu vor der erstarkenden SVP ist der Linken offenbar entgangen, dass hinter dem anhaltenden Trend nach rechts jene Menschen stehen, für die sie eigentlich einzustehen hätte.

Vorwurf des Cüpli-Sozialismus

Laut Politikwissenschaftlerinnen und Politikwissenschaftlern sind dies die Verlierer der Globalisierung – jene, die tendenziell auf dem Land leben oder über ein tiefes Bildungsniveau verfügen. Diese Menschen haben sich ihrerseits angewidert von der Linken abgewendet. Die Linken, das sind in ihren Augen jene, die lange studieren, um elitär daherzureden und nichts Gescheites zu arbeiten. Die Linken sind in diesem Stereotyp vergleichbar mit dem Adel des späten 19. Jahrhunderts: ohne Macht, aber unter ständigem Rechtfertigungsdruck.

Der Vorwurf des Cüpli-Sozialismus ist nicht neu. Doch auch im vergangenen Wahlkampf hat sich die SP auf ihre Stammwählerschaft konzentriert und 100’000 Telefongespräche mit potenziellen Wählerinnen und Wählern geführt. Ein beachtlicher Einsatz. Doch sind Telefongespräche das, was sich Bürgerinnen und Bürger von ihrer Partei wünschen?

Was ist mit all den Menschen, die die SP nicht angerufen hat? Hat sie jenen vielleicht gar nichts mehr zu sagen? Nur so ist es zu erklären, dass sie sich auch im vergangenen Wahlkampf kein einziges Mal an diese Leute gewendet hat; mit einem identitätsstiftendem Clip auf Youtube zum Beispiel, wie es die SVP tat. Das hätte sie nicht viel Geld gekostet, nur die Überwindung, sich auf die durchschnittliche Schweizer Bevölkerung einzulassen.

Die Schweizerische Linke macht ihre Politik für eine gutsituierte, gebildete, städtische Bevölkerung. Sie ist konservativ geworden, man könnte auch sagen: reaktionär.

Doch die Schweizerische Linke macht ihre Politik für eine gutsituierte, gebildete, städtische Bevölkerung. Sie trifft sich dazu in urbanen Quartiergärten. Und in diesen Gärten ist sie konservativ geworden. Man könnte auch sagen: reaktionär, denn sie reagiert nur noch verteidigend auf die Vorstösse der rechten Parteien. Irgendwann hat sie damit begonnen, sich zurück zu wünschen – zurück in die Schrebergärten, in den Wohlfahrtsstaat der 1970er-Jahre, zurück auf die entschleunigte Alp.

Dabei hat sie vergessen, dass sie diese Welt einst bekämpfte. Sie hat begonnen, sich über jene Leute zu empören, die ihr Geld nicht für den ÖV und Biogemüse und Solarstrom ausgeben mögen. In diesem konservativen Geist hat die Linke ein Moratorium für die Gentechnik unterstützt. Sie nimmt in Kauf, dass Atomkraftwerke durch Gaskraftwerke ersetzt werden sollen und zur gleichen Zeit gibt es Kreise, die aus Gründen des Landschaftsschutzes Windkraftwerke verhindern. Ihre Verkehrspolitik erschöpft sich im Widerstand gegen den Bau einer zweiten Gotthardröhre.

Die Sehnsucht nach unverbauter Landschaft ist ein zutiefst konservativer Gedanke. Dahinter verbirgt sich der alte Reflex gegen die Moderne. Mit ihrer Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und Unbeflecktheit bewegen sich dabei gerade die Grünen in einer gefährlichen Nähe zu jenem Gedankengut, von dem sie sich angesichts der Ecopop-Initiative vor einem Jahr verzweifelt zu distanzieren versuchten. Der ‹verpuffte Fukushima-Effekt› mag alleine nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Grünen sich zwischen liberalen und protektionistischen Lagern in einen gefährlichen Stillstand manövriert haben. Es fehlt die Vision.

Die Zukunft im Auge behalten

Die Schweiz bräuchte eine alternative Erzählung: ein Weltstaat für 10 Millionen Einwohner und mehr; mit innovativen Metropolen und grosszügigen Naturflächen. Es wäre dies eine Schweiz, die sowohl die SP wie auch die Grünen attraktiv machen könnte. Nicht die kindliche Flucht zurück in den Schoss der Natur: gesellschaftlicher und technologischer Fortschritt müsste ihr Ziel sein. Die Klimaerwärmung und die Flüchtlingsnot kann nur durch beschleunigte Fortschritte gelindert werden.

Die Schweiz braucht für ihre Weiterentwicklung nicht das bestehende, sondern ein neues Verhältnis zu Europa. Es hätte ein anderes Verhältnis sein können, als es die bilateralen Verträge uns bieten. Stattdessen war die Linke bei allen Abstimmungen über Europa auf Seiten der neoliberalen Kräfte, die nur an dessen Marktzugang interessiert waren. Damit hat die Linke an Glaubwürdigkeit verloren. Sie hat für den Wohlstand in einem kapitalistischen System votiert. Heute ist sie an einen Punkt gelangt, an dem sie ihre Forderung nach einem EU-Beitritt nicht mehr offen auszusprechen wagt.

Will die Linke den Menschen eine Alternative anbieten, muss sie wieder mutig werden. Dazu würde sie ihre Visionen unermüdlich in die Öffentlichkeit tragen.

Will die Linke den Menschen eine Alternative anbieten, muss sie wieder mutig werden: den globalen Aufbruch begrüssen, das Bild einer neuen Schweiz entwerfen. Dazu würde sie auch selbst Konflikte auf die Agenda setzen. Sie würde die Abschaffung des aufgeblähten Agrarstaates fordern. Sie würde die Bildung reformieren und mutig die Aufspaltung der Grossbanken vorantreiben. Die Zuwanderung würde sie als Gebot der Zukunft erkennen und selbst damit beginnen, das Asylsystem umzugestalten.

Sie würde einstehen für mehr Windkraftwerke und Forschungsplätze und ein unabhängiges Internet. Und sie würde ihre Visionen unermüdlich in die Öffentlichkeit tragen. Sie würde die Medien befeuern mit ihren Vorschlägen, mit kühnen Zukunftsvisionen und Handlungsimperativen, damit die Migrationsbewegung, die unserem Land bevorsteht, mit Gelassenheit verkraftet werden kann. Diese neue Linke würde in grossen Zügen denken, aber einfach und leichtfüssig, so dass die Bevölkerung sie verstehen lernte. Also los. Auf in die Zukunft…

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Im Speaker’s Corner publiziert die TagesWoche ausgewählte Texte und Bilder von Community-Mitgliedern. Vorschläge gerne an community@tageswoche.ch.

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