«Die Missstände sind durch Tagesstrukturen alleine nicht zu lösen»

Wiebke Herrmann hat sich Gedanken zu den Tagesstrukturen für Kinder gemacht. In ihrem Gastkommentar erklärt die Leserin, warum Tagesschulen alleine nicht die Lösung sind. Und was sie sich von Lehrerinnen und Lehrern wünscht. Den Schwerpunkt der TagesWoche zum Thema Tagesstrukturen und Schule fand ich sehr interessant, die Artikel haben bei mir jedoch zu einigen Fragen […]

Wiebke Herrmann hat sich Gedanken zu den Tagesstrukturen für Kinder gemacht. In ihrem Gastkommentar erklärt die Leserin, warum Tagesschulen alleine nicht die Lösung sind. Und was sie sich von Lehrerinnen und Lehrern wünscht.

Den Schwerpunkt der TagesWoche zum Thema Tagesstrukturen und Schule fand ich sehr interessant, die Artikel haben bei mir jedoch zu einigen Fragen geführt, welche ich gerne mit Ihnen teilen möchte.

In Allschwil zum Beispiel wurden die Tagesstrukturen innert sechs Monaten zwischen Beschluss und Einführung umgesetzt. Wie der Autor und die am Projekt Beteiligten richtig erkannt haben, war dies eine viel zu kurze Vorlaufzeit, um ein wirklich gutes Ergebnis mit diesem Projekt zu erzielen. Da keine Vorgaben vorhanden sind und alles an die örtlichen Gegebenheiten angepasst neu erdacht bzw. mit den Betroffenen diskutiert werden durfte, sind sechs Monate aus meiner Sicht viel zu kurz. Die Rückschlüsse, die jedoch aus dieser Erfahrung gezogen wurden, kann ich nicht nachvollziehen.

Im Blog «Speaker’s Corner» publiziert die TagesWoche unter anderem Gastkommentare von Leserinnen und Lesern. Dieser Text stammt von Wiebke Herrmann: Sie ist Mutter von zwei schulpflichtigen Kindern und arbeite als Personal Coach/Seminarleiterin mit Schwerpunkt Burnout/Boreout/ADHS.

(Bild: unknown)

Es verwirrt mich, dass in der Schweiz – welche auf Vertrauen, Eigenverantwortung und Mitspracherecht aufgebaut wurde – heute statt nach ausreichend Zeit für eine im Gespräch mit allen Beteiligten passende und nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtete Tagesstruktur zu rufen, auch die mit dem Projekt Beauftragten nach mehr Staat und Kontrolle rufen. Kontrolle und zentrale Organisation führen unweigerlich in Angststrukturen, da Kontrolle fehlendes Vertrauen ausdrückt. Ausserdem ist Kontrolle auch nur durch Fremdsteuerung erreichbar. Als Mensch richte ich mich somit nach den Bedürfnissen anderer aus, statt mündig selbst die Verantwortung für mein Tun zu übernehmen.

Dies führt mich zu meinen nächsten Fragen: Wieso soll es für Eltern wünschenswert sein, Kinder das ganze Jahr hindurch Fremd betreuen zu lassen? Ist es für die Kinder überhaupt gesund, wie Erwachsene in einem durch Arbeitszeiten gesteuerten Alltag aufzuwachsen und immer – auch in den Ferien – ausser Haus sein zu müssen? Mir persönlich erscheint es als ein enormer Stress für die Kinder. Eventuell sogar als eine Art Entwurzelung, denn die eigenen vier Wände können nur am Wochenende oder zum Schlafen genutzt werden und qualitativ gute Eltern-Kind-Gespräche finden nur selten im effizient durchorganisierten Alltag platz.

Wieso soll es für Eltern wünschenswert sein, Kinder das ganze Jahr hindurch Fremd betreuen zu lassen?

Wohl wissend, dass auch der Einfluss der Familie schädlich sein kann, so kommt es doch aus meiner Sicht auf ein ausgewogenes Verhältnis und die lebensphasenabhängige freie Wahl durch die Eltern an. Wobei diese durch viele teilzeitunwillige Arbeitgeber ebenfalls noch stark eingeschränkt wird. Eine Demokratie, in der ich nicht frei entscheiden und wählen kann was zur aktuellen Familiensituation am besten passt, ist aus meiner Sicht keine Demokratie mehr.

Ein weiterer Punkt wird bei der Debatte um die Tagesstrukturen aus meiner Sicht nicht ausreichend beachtet. In vielen Fällen löst die Menge an Lernstoff oder die Langeweile durch endlose Wiederholungen von bereits verstandenem Stoff Stress bei den Kindern aus. Diesen Missstand kann man durch Tagesstrukturen allein nicht lösen. Im bestehenden Lernkonzpet, wird dadurch eher noch mehr Stress erzeugt und die Zahl psychisch kranker Jungendlicher weiter ansteigen.

Eine Demokratie, in der ich nicht frei entscheiden und wählen kann was zur aktuellen Familiensituation am besten passt, ist aus meiner Sicht keine Demokratie mehr.

Gemäss meinen eigenen Beobachtungen stelle ich fest, dass viele Schülerinnen und Schüler schon in den unteren Primarklassen das vom Lehrplan/Lehrpersonen geforderte Tempo oft nicht mehr halten können oder falsch gefördert werden. Was gelegentlich auch zu Unterforderung und daraus resultierender Langeweile (Resignation) führt.

Ein Beispiel: Endlose Mathewiederholungen obwohl das Kind den Stoff bereits zwei Schuljahre vorher selbst erlernt hat und beherrscht. Statt hier zu sagen, das Kind kann dies schon, wir erlassen ihm endlose Wiederholungen (und verlangen nur punktuell Übungen, um drin zu bleiben) und legen den Schwerpunkt der Hausaufgaben / Unterrichtseinheiten auf die Fächer, welche weniger gut beherrscht werden, muss das Kind alles machen oder als Hochbegabter noch mehr als andere. Wenn das Kind dann müde ist von den Wiederholungen, soll es noch aufnahmefähig für andere Dinge sein?

Aus meiner Sicht lässt sich das Problem schlechter Schülerinnen und Schüler über die Überwachung der geleisteten Quantität nicht lösen. (Die Eidgenossenschaft wurde auf gegenseitigem Vertrauen gegründet, auch hier deshalb die Frage: Wieso immer mehr und mehr Überwachung?). Es ist notwendig den Gedanken, dass Alle Alles können und gleich gut beherrschen müssen, zu relativieren und den Schülern ein Verständnis über die Art der Funktionsweise der direkten Demokratie zu vermitteln.

Das heisst, ihnen beizubringen, wie sie selbst mündig entscheiden. Doch dies allein nützt nicht, denn sie müssen auch lernen, wie sie mit ihren Eltern/Familien umgehen können, welche diese Mündigkeit eventuell nicht kennen oder nicht tolerieren und deshalb mit mündigen Kindern kaum umgehen können. Was meist dazu führt, dass mündiges Verhalten im Elternhaus bestraft wird. Dies setzt die Kinder zusätzlich und lernbehindernden Stress.

Es ist notwendig den Gedanken, dass Alle Alles können und gleich gut beherrschen müssen, zu relativieren.

Ausserdem will ich die Chance nutzen auf einen Missstand hinzuweisen, den ich im Zusammenhang mit der Kleinkindbetreuung seit circa zehn Jahren beobachte und welcher in den Medien bisher nicht thematisiert wird: Viele Jugendliche, welche Kleinkinderzieher als Beruf erlernen möchten, werden zum Teil jahrelang mit schlecht bezahlten Praktika bei der Stange gehalten, bis sie aufgrund fortschreitendem Alter dann lieber doch eine Lehre im Verkauf oder anderswo machen. Hier sollte die Ausbildungssicherheit gewährleistet werden, denn der Markt spielt offensichtlich nicht. Zum Beispiel über eine schulische Ausbildung mit Praktika die dann nach 3-5 Jahren in einen definitiven Abschluss führt, so dass weniger junge Menschen von den Krippen als Billigarbeitskräfte ausgenutzt werden können (fehlende Renteneinzahlungen etc eingeschlossen).

Diese Ausbildung sollte auch für Schülerinnen und Schüler mit weniger guten Noten oder niedrigstem Schulabschluss (vielleicht waren die Jugendlichen im heutigen Schulsystem nur «schulmüde» Underperformer?) offen sein, denn Noten sagen wenig über die Eignung mit Kleinkindern umgehen zu können aus.

Noten sagen wenig über die Eignung mir Kleinkindern umzugehen.

Die Kindergärtnerausbildung in Bayern (als ich noch dort lebte, war sie so organisiert) könnte eventuell als Modell nützlich sein (2 Jahre Vorpraktikum, 2 Jahre Schule, 1 Jahr Anerkennungspraktikum und dann gibt es einen gültigen Berufsabschluss und somit auch ein normales Gehalt), denn die/der Lernende hat ausreichend Zeit in Praktika festzustellen, ob sie wirklich langfristig mit Kindern arbeiten möchten beziehungsweise können.

Es gibt auch positive Tendenzen

Bei all dem Kritisierten darf jedoch nicht verschwiegen werden, dass es auch viele positive Tendenzen gibt. Ich kenne einige Lehrpersonen, die sich zum Beispiel zum Lerncoach weitergebildet haben und dieses Konzept erfolgreich im Unterricht umsetzen. Dies führt zu weniger Stress und mehr Freude/Motivation sowohl auf Seiten der Schülerinnen als auch der Lehrpersonen. Deshalb will ich mit einem Wunsch enden:

Ich wünsche mir, dass alle Lehrpersonen, welche im Studium noch nicht das Konzept des Lerncoachings kennenlernen durften, kostenfrei (d. h. auf Kosten der Steuerzahler) eine Weiterbildung besuchen dürfen, damit dieses Konzept möglichst schnell eine nachhaltige Verbesserung für die Schülerinnen und Schüler bewirken kann.

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