Lukas Bärfuss’ Essay über die Schweiz und ihre Manie rief heftige Reaktionen hervor. Sie zeigen allerdings, dass Bärfuss mit seiner Analyse richtig liegt: Die Rechte brüllt, die Medien wittern ein gutes Geschäft, während Bürgerliche und Linke voller Verwirrung und Selbstmitleid schweigen.
Eine «Wutrede» sei es, «Schaum vor dem Mund» habe der Mann. Mit seiner Empörung tue er gerade das, was er kritisiere: Polemik verbreiten. Wozu er sich denn erdreiste? In eine Reihe mit Dürrenmatt und Frisch stellen wolle er sich, wurde ihm unterstellt, in einem Fall gar, dass er aufgehört habe, Mensch zu sein.
Die Reaktionen auf Lukas Bärfuss‘ Essay mit dem Titel «Die Schweiz ist des Wahnsinns» waren heftig. Doch nur ganz selten – und gerade nicht in den grossen Schweizer Tageszeitungen – waren sie inhaltlicher Art. Sie zielten auf den Ton oder die Person. Dabei ging unter, dass Bärfuss seine These sachlich begründet. Im Kern beklagt er die hiesige Kapitulation vor der schwierigen, da hochkomplexen Realität. Statt sich ihr zu stellen, versichere man sich hierzulande der gemeinsamen Nationalität, oder den vordergründig befriedigenden Abschlüssen guter Geschäfte.
Mutlosigkeit und gute Geschäfte
Das Bild der «Suissemania» ist dafür so frech wie passend, weil die Sticker nationale Monumente abbilden und erst noch umsonst zu haben sind. Diese Kapitulation, so Bärfuss, erfolge durch «enorme Verdrängungsleistungen», die er daran erkennt, dass «keine der politischen Parteien» den Mut habe, «sich im Wahlkampf den realen Herausforderungen zu stellen». Dann beginnt er aufzuzählen: Zur Beziehung zur EU würde geschwiegen, denn: «die Situation ist einfach auch zu kompliziert». Bei seiner kurzen Wirtschaftsanalyse geht er zwar von falschen Wachstumszahlen als Prämisse aus, doch kaum zu bestreiten ist, dass auf die aktuell schwierige Lage beispielsweise mit
- einem «Ertüchtigungsprogramm» aus verlängerten Arbeitszeiten und gekürzten Löhnen, welches Linke und Gewerkschaften mit einer «über Generationen angelernten Bravheit tolerieren»,
- Einkaufstourismus oder
- einer riskanten Energiepolitik reagiert wird.
Verdrängung durch Mutlosigkeit und gute Geschäfte also.
Die Herausforderungen der komplexen Realität sieht Bärfuss jedoch nicht nur in der Verbindung mit der EU oder der Weltwirtschaft begründet. Er beobachtet im Innern der Schweiz einen Kulturkampf, der zwar als solcher erkannt, doch von vielen Pessimisten (er muss damit Linke meinen) als entschieden betrachtet wird, weil den bürgerlichen und linken Gegnern der Nationalisten (er bezeichnet diese im europäischen Vergleich etwas gar harsch als Extremisten) Entschiedenheit und Kapital fehlten.
Bärfuss prangert weniger das Vorpreschen der Rechten an als die Resignation der Medien, der Bürgerlichen und der Linken, die ihre Ohnmacht akzeptieren.
Dass Kämpfe um Einfluss in den Medienhäusern existieren und diese schon einige Male durch Rechte gewonnen wurden, ist kein Geheimnis. Der Abschnitt zum neuen NZZ-Feuilletonchef René Scheu ist zwar unnötig spekulativ, doch im Kern hat Bärfuss Recht: In Zeiten zunehmender Komplexität und durchs Internet herbeigeführter grosser Umbrüche innerhalb der Medienbranche sind für die privaten Verleger journalistische Prinzipien wie Unabhängigkeit verkäuflich, solange der Preis stimmt. Und die Staatsmedien widersetzen sich der Einflussnahme nicht, aus Angst, ihre Neutralität zu verlieren. Auch hier also: gute Geschäfte und Mutlosigkeit.
So beobachtet Bärfuss denn auch, dass die Schweiz auf internationaler Ebene an Einfluss verliert. Doch er ist darüber nicht erbost. Eher wirkt er traurig: «Der einzige Trost liegt im Umstand, dass man sich auch daran mittlerweile gewöhnt hat.» Auf nationaler Ebene bedauert er damit auch den durch die Medien begünstigten, zunehmend grassierenden Populismus. Doch auch hier ist Bärfuss nicht bloss wütend resigniert, sondern gar hoffnungsvoll: «Die Vernunft hierzulande ist nicht tot, sie schläft einfach sehr, sehr tief».
Reaktionen bestätigen Bärfuss‘ Diagnose
Es liegt nun in der Natur der Sache, dass Bärfuss’ Text als moralisierend taxiert wird, auch wenn er das Wort nicht gebraucht. Doch was Bärfuss offenbar vermisst, ist nicht bloss Moral im klischierten Sinn. Vielmehr vermisst er bereits den Willen, sich in einer verändernden, hochmedialisierten Welt immer wieder mit der Frage auseinanderzusetzen, was denn nun überhaupt real sei.
Dieser Wille erst würde die Entwicklung moralischer Überzeugungen überhaupt ermöglichen, die darüber hinausgehen, dass man das Heimatland feiert oder dass man nur tut, wofür man einen angemessen Preis erhält. Dieser Wille würde nach Bärfuss‘ Ansicht wohl auch die grossen Worte der Rechten als plumpe, hilflose, ohnmächtige, irreführende Vereinfachungen und den Ausverkauf der Medien als feigen Opportunismus entlarven. Dieser Wille wäre nötig, um auf wirtschaftlicher, politischer oder sozialer Ebene der Komplexität der jeweiligen Umstände entsprechende Entscheidungen zu fällen.
Bärfuss – so erscheint es – prangert damit also nicht zuerst das freimütige Vorpreschen der lauten Rechten an, sondern vielmehr die Resignation und Mutlosigkeit der Medien, der Bürgerlichen und der Linken, die ihre bewusst erlebte Ohnmacht akzeptieren, um sich nicht um immer kompliziertere moralische Fragen kümmern zu müssen und damit Verantwortung zu übernehmen. Bezeichnenderweise bestätigen gerade die Reaktionen auf Bärfuss’ Text denselben in seiner Diagnose: die Rechte brüllt, ohne ihn zu verstehen, die Medien wittern ein gutes Geschäft und bringen häppchenweise ablenkendes Klickfutter, und Bürgerliche und Linke schweigen voller Verwirrung und Selbstmitleid.
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Pascal Sigg ist freier Journalist in Zürich (www.pascalsigg.ch).