Die Sache mit dem Multitasking, der dauernden Erreichbarkeit und dem Aktualisierungszwang

Wir sind (fast) immer erreichbar, nur noch selten ganz offline, führen mehrere Dinge parallel aus und aktualisieren vermutlich öfters als wir urinieren. Daran sind unsere kleinen digitalen Begleiter nicht ganz unschuldig. Und langsam wird es deutlich: das Netz ist endgültig in uns aufgegangen. «Yes, geschafft!» Nach rund zehn Stunden Schwimmunterricht hat die kleine Anushri das […]

Wir sind (fast) immer erreichbar, nur noch selten ganz offline, führen mehrere Dinge parallel aus und aktualisieren vermutlich öfters als wir urinieren. Daran sind unsere kleinen digitalen Begleiter nicht ganz unschuldig. Und langsam wird es deutlich: das Netz ist endgültig in uns aufgegangen.

«Yes, geschafft!» Nach rund zehn Stunden Schwimmunterricht hat die kleine Anushri das Vertrauen in sich und das Wasser. «Siehst du, man geht wirklich nicht unter, wenn man sich flach aufs Wasser legt und einfach nichts tut!» sage ich lachend. Auch sie lächelt. Etwas misstrauisch zuerst, strahlt dann, fängt vor lauter Freude an zu strampeln, stellte sich dann aber senkrecht, schluckte Wasser und gurgelte schliesslich erleichtert, als ich sie wieder herausfische. «Eins nach dem andern», beruhigte ich sie und bin froh, dass sie noch immer strahlt.

«Nichts tun», denke ich, «sich nur auf den Rücken legen, atmen und an die Decke blinzeln.» Aber Genau das ist die Schwierigkeit. Als ich das letzte Mal einfach nichts tat, tat ich es heimlich. Nichtstun ist gar nicht so einfach und gilt in der Gesellschaft als noch schlimmer, als nur etwas zu tun. Aber auch das bringt eigentlich nichts. Multitaskingfähig muss man sein – und das lieber oft als selten. Ob dieses Nichtstun für die kleinen Neuschwimmer auch schon so schwer ist, wie für uns?

Multitaskingfähig sein

Der Begriff Multitasking stammt ursprünglich, wie könnte es auch anders sein, aus der Informatik und bezeichnet die Fähigkeit eines Betriebssystems, mehrere Aufgaben gleichzeitig auszuführen. Dabei werden verschiedenste Prozesse in so kurzen Abständen abwechselnd aktiviert, dass der Eindruck von Gleichzeitigkeit entsteht. In den letzten Jahren hat sich der Begriff nach und nach auch auf den Menschen übertragen und nur noch wenige Leute denken an einen Computer, wenn sie das Wort «Multitasking» hören.

Die meisten Mitarbeiter im Büro- und Verwaltungsbereich – ganz egal ob Chef oder Angestellter – müssen sich mit Arbeitsverdichtung, Zeit- und Termindruck, ständigen Arbeitsunterbrechungen und der Informationsüberflutung auseinander setzen. «Einfach möglichst vieles parallel und gleichzeitig machen», ist Lisas Devise. «Es geht eben nicht anders. Wir müssen ja ständig erreichbar sein, egal ob über Mail, Telefon oder Skype.» Das Zauberwort und die Lösung des Problems ist «Multitasking», wie Lisas Chef zu sagen pflegt.

Doch können wir wirklich mehrere Dinge gleichzeitig erledigen und von einer Aufgabe zur nächsten – und wieder zurück – springen? Sind wir produktiver, schneller und vor allem effizienter, wenn wir parallel mehrere Aufträge bearbeiten und zwischendurch auch noch einen Blick in die privaten Mailboxen werfen? Müssen wir wirklich immer erreichbar sein?

Bald schon werden wir abends, bevor wir das Büro verlassen, eine automatische Antwort einrichteten, die informiert: «Ich bin bis morgen 8.30 Uhr nicht im Büro.»

«Ich bin bis am Montag nicht im Büro. In dringenden Fällen erreichen Sie mich unter: 079 usw.» las ich vor kurzem in einer automatischen Antwort, auf eine Mail, die ich freitags um vier Uhr verschickte. Muss man jetzt schon mitteilen, dass man am Wochenende ausnahmsweise nicht arbeitet? Oder entschuldigt sich hier jemand schon im Voraus dafür, dass er am Wochenende zwar nicht arbeitet, aber trotzdem rund um die Uhr erreichbar sein wird?

Verrückt: wer nicht erreichbar ist, ist sozial stigmatisiert. Und vermutlich übertreibe ich nicht einmal mehr masslos, wenn ich behaupte, dass wir vielleicht bald schon abends, bevor wir das Büro verlassen, eine automatische Antwort einrichteten, die informiert: «Ich bin bis morgen 8.30 Uhr nicht im Büro und lese meine Mails in der Zwischenzeit nur sporadisch. In dringenden Fällen erreichen Sie mich unter 079 usw. Und wenn Sie möchten, können Sie auch jederzeit bei mir Zuhause klingeln, denn ich habe ohnehin kein Privatleben mehr.»

Gibt es so etwas wie einen Aktualisierungszwang?

Lisas Blackberry liegt auf dem Tisch, meine Iphone daneben, als wir uns in der Mittagspause kurz auf einen Kaffee treffen. Die Mädels am Tisch neben uns spielen alle drei mit ihren Smartphones, schreiben SMS, zeigen sich Bilder, lachen und schauen kurz nach, wie der eine Typ von gestern hiess. Die «Mitte» ist voll mit Smartphones, Laptops, Kaffees und vielen multitaskingfähigen Menschen.

Multitaskingfähigsein ist nichts Unhöfliches mehr. Und während Lisa ihren Mailaccount überprüft, schaue ich selber kurz nach, ob das Interview mit John Cayley nun in der aktualisierten Version online ist. In der kommenden halben Stunde wird Lisa noch weitere vier Mal ihren Posteingang überprüfen und ist damit bestimmt nicht die einzige, die fast schon unter einem Aktualisierungszwang leidet.

Und zugegeben, erst vor kurzem ging es mir ähnlich: Zwei Tage keine neue Nachrichten in meinem Posteingang. Ich war überzeugt, dass die Firewall schon wieder irgendwelche Ports geschlossen haben muss. Die sogleich an mich selbst adressierte Test-Mail verneinte dies allerdings umgehend. Trotz regelmässigem Aktualisieren blieb es unheimlich still. Ich flüchtete ins «Rialto» und legte mich wie die Kleinen aufs Wasser. Da ist die Ruhe nichts Ungewohntes, weil unsere digitalen Alltagsbegleiter (zum Glück?) noch nicht Wasserfest sind.

«Sorry, war schwimmen, bin jetzt wieder erreichbar», tippte ich nur eine Stunde später als Antwort auf die drei verpassten Anrufe.

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