Ein Programm scannt E-Mails, soziale Netzwerke und stellt Mitarbeiter unter Verdacht. Was die Software nicht kann: wissen, was die Mitarbeiter wirklich machen.
Stellen Sie sich einen Manager vor, der sich über die Dinge in seinem Unternehmen informieren will. Anstatt eine Führungskraft ins Büro zu bestellen, schaut er auf sein Display, das ihm alles über seine Mitarbeiter anzeigt: Wer sitzt gerade am Arbeitsplatz, wer ist glücklich, wer ist in sozialen Netzwerken gut vernetzt? Abweichungen von der Norm werden in Rot anzeigt. Was wie eine Utopie klingt, könnte bald Realität werden. People Analytics nennt sich die Disziplin, mit der die Arbeitswelt von morgen revolutioniert werden soll.
«Bei People Analytics geht es darum, Daten zu nutzen, wie wir mit unserer Arbeit das Unternehmen verändern», erklärt der IT-Wissenschaftler Ben Waber. Waber ist Gastdozent am MIT Media Lab in Boston und Autor eines Buchs über People Analytics, das letztes Jahr erschien. Der grösste Teil dieser Technologie sei die Nutzung von Datenquellen wie Sensoren und E-Mails. «Diese Daten zu nutzen, um Bewerber zu scannen, ist nur ein kleiner Teil des grösseren Ganzen», so Waber.
Dass Algorithmen Bewerberprofile scannen, ist nicht neu. Neu ist jedoch der ganzheitliche Ansatz: Der Mitarbeiter soll von Kopf bis Fuss durchleuchtet werden. Seine Leistung soll quantifiziert werden. Das «Wall Street Journal» schrieb: «Es behandelt den Menschen in einer Organisation wie jedes andere Vermögen in der Verwertungskette: als etwas, das beobachtet, registriert und rekonfiguriert wird.» Der Mensch wird zur Maschine – und der Mitarbeiter in seinen Handlungen ziemlich vorhersagbar.
Wer hat den grössten Kundenstamm?
Die US-Firma Volometrix bietet ein Software-Paket an, das jede E-Mail und jeden Kalendereintrag der Mitarbeiter scannt und auf dieser Grundlage eine aktuelle Netzwerkanalyse erstellt. «People Analytics untersucht Zeitverhaltensmuster und Netzwerktrends innerhalb und ausserhalb einer Organisation», teilt Volomterix auf Anfrage mit. «Die Reports bieten eine Echtzeit-Einsicht für Entscheidungsträger, um das Geschäft effektiv zu managen und ihre wertvollste Ressource zu bemächtigen: die Mitarbeiter.»
Mit People Analytics soll die Performanz des Unternehmens gesteigert werden. Volometrix operiert mit sogenannten Key Performance Indicators (KPIs). Diese Leistungsindikatoren messen, wie gross das interne Netzwerk ist, wie viel Zeit man mit Kunden verbringt oder wie oft man in sein E-Mail-Postfach schaut. «Mit diesen Informationen erhalten Führungskräfte einen massgeschneiderten Rekrutierungsprozess», teilt Volometrix mit.
Ein Verkäufer mit einem grösseren Kundenstamm ist wertvoller als der Kollege mit kleinerem Netzwerk. Die Tatsache scheint banal, doch mit der Software wird sie sichtbar. Das Programm schickt automatisch E-Mails an den Vertrieb, um zum Ausbau eines grösseren Netzwerks zu animieren. Zu den Kunden von Volometrix gehören unter anderem Qualcomm, Boeing und Symantec.
Alltag widerspricht den Daten
Die Frage ist: Welche Daten werden herangezogen? Volometrix sagt, dass es «speziell aggregierte und anonymisierte Kalender- und E-Mail Daten analysiert. Die zeitbasierten Daten quantifizieren die Zeit, die ein Mitarbeiter mit E-Mails und Meetings verbringt.» Doch selbst wenn die Daten anonymisiert sind, kann man der Abteilung einen Strick draus drehen. Warum wurde weniger Zeit auf das Schreiben von E-Mails verwandt? Warum werden weniger Meetings abgehalten? Dahinter steckt auch eine verquere Logik: Wer viel Zeit mit Mails und Meetings verbringt, gilt heute als produktiver Mitarbeiter.
Die Empirie im Alltag dürfte das widerlegen. Problematischer wird es bei den sogenannten «Relationship Data», die Volometrix erhebt. «Diese Daten erlauben den Managern nicht nur zu sehen, wie viel Zeit man auf bestimmte Aktivitäten verwendet, sondern auch, mit wem man interagiert», teilt das Unternehmen mit. Hat man in letzter Zeit viel mit einem abtrünnigen Mitarbeiter kommuniziert? Mit einem Konkurrenten? Oder mit einem Kollegen, dessen Wechselabsichten durch häufiges Anklicken von LinkedIn erkannt wurden? Dann könnte das einem schnell zum Nachteil gereichen.
Das Fatale ist: Die Software operiert viel mit Wahrscheinlichkeiten – und stellt Mitarbeiter unter Verdacht. Die Folge von People Analytics ist, dass der Mitarbeiter im Büro gläsern wird. Experte Waber warnt: «Wir brauchen notwendige Schritte, dass die Unternehmen nicht zu viel Daten sammeln und die Privatsphäre verletzen.» Sonst könnte der Chef bald wirklich vor seinem Bildschirm sitzen und sagen: «Kollege X war in letzter Zeit kaum in seinem Postfach und oft auf Jobportalen. Zitieren Sie ihn bitte zu mir Büro.»