Ökonomen bringen die kleinen Extras in Erklärungsnot, für Psychologen aber sind sie eine Fundgrube.
Es gibt eine Frage, mit der Sie jeden Ökonomen in Verlegenheit bringen können: «Weshalb sind Menschen bereit, freiwillig mehr Geld zu zahlen, ohne eine direkte Gegenleistung zu bekommen?» In der Volkswirtschaftslehre taucht der Begriff Trinkgeld auch kaum je auf. Vielleicht haben sich auch deshalb so wenig Ökonomen mit dem Thema wissenschaftlich auseinandergesetzt, weil die Antwort eher auf psychologischer Ebene zu finden ist. (Nachtrag: Inspiriert von diesem Artikel, versucht der Journalist und Ökonom Michael Heim das Phänomen dennoch ökonomisch zu erklären. Überzeugend? Urteilen Sie selbst)
Der Berliner Psychologe Markus Dobler jedenfalls hat seine Doktorarbeit zum Thema verfasst, unter dem Titel «Der irrationale Umgang mit Geld am Beispiel der deutschen Trinkgeldkultur in Gaststätten». Der Doktorand versuchte in seiner Arbeit, dem irrationalen Phänomen auf die Schliche zu kommen – und hat dabei Erstaunliches zutage gefördert.
So sinkt zum Beispiel der Anteil des Trinkgelds, je höher die Rechnung ausfällt. Während viele beim Kaffee auf den nächsten Franken aufrunden und damit nicht selten zehn Prozent und mehr Trinkgeld geben, gibt der Gast bei einer Rechnung von rund 200 Franken eher selten ein Trinkgeld von 20 Franken.
Aufrunden ist am beliebtesten
Und damit sind wir schon bei der nächsten Erkenntnis des Psychologen: Aufrunden ist die beliebteste Methode überhaupt, Trinkgeld zu geben. Doch aufgepasst, ganz so einfach ist die Materie dann doch nicht. Stellt der Psychologe doch fest, dass es vielen Gästen auch peinlich ist, wenn beim Aufrunden allzu wenig Trinkgeld übrig bleibt. Bei einem Rechnungsbetrag von Fr. 4.90 zum Beispiel sei es den meisten peinlich, nur auf fünf Franken respektive Euro aufzurunden.
Und noch etwas gilt es zu beachten: Wer bar zahlt, rundet in mehr als der Hälfte der Fälle auf, wenn er oder sie Trinkgeld gibt. Bei den Kartenzahlern dagegen sind es nur gerade einmal 17 Prozent. Viele geben als Trinkgeld separat ein paar Münzen.
Männer kassieren mehr
Ein widersprüchliches Ergebnis liefert die Untersuchung bei der Frage, ob Kellnerinnen oder Kellner mehr Trinkgeld bekommen. In absoluten Beträgen sind es nämlich die Frauen, die obenaus schwingen. In Anteilsprozenten gerechnet, sind es aber wieder einmal die Männer, die mit 12 Prozent rund drei Prozent mehr kassieren als ihre Kolleginnen. Der Grund: Kellnerinnen machen zwar tendenziell mehr Umsatz als ihre männlichen Kollegen – bei weniger Geldfluss generieren die Männer aber prozentual mehr Trinkgeld.
Keinen signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern ortet der Psychologe bei den Trinkgeldgebern: Frauen und Männer überlassen dem Servicepersonal etwa gleich viel Trinkgeld, in Umfragen aber übertreiben die Männer regelmässig, wenn sie danach gefragt werden.
Der Wissenschaftler stiess noch auf weitere Gesetzmässigkeiten des nur scheinbar irrationalen Phänomens: Je grösser eine Gruppe ist, desto weniger Trinkgeld gibt der Einzelne, am Abend gibt es am meisten Trinkgeld, und ältere Gäste geben mehr als jüngere.
Das Trinkgeldgeben ist keineswegs ein modernes Phänomen. Schon im 14. Jahrhundert taucht der Begriff im grossen Wörterbuch der Brüder Grimm auf. Definiert als «kleinere Geldsumme für ausser der Regel geleistete Dienstverrichtung, ursprünglich zum Vertrinken auch Biergeld genannt». Trinkgeld bekamen damals Dienstboten, Tagelöhner und Handwerker.
Männer geben nicht mehr als Frauen – sie behaupten es nur.
Die Kultur des Trinkgelds etablierte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann aber vor allem in Dienstleistungsberufen (Pagen, Kutscher, Kellner). Heute erhalten vor allem Coiffeure, Taxifahrer, Reiseleiterinnen, Zeitungsverträger, Zügelmänner und Croupiers in Casinos Trinkgeld.
Für seine Dissertation führte der Wissenschaftler zahlreiche Interviews. So unterschiedlich die Antworten der Befragten auch waren, in einem Punkt stimmten alle überein: Die grösste Angst aller Trinkgeldgeber ist, nicht den üblichen Gepflogenheiten zu entsprechen und so «sozial unangenehm aufzufallen». Dabei ist diese Angst unbegründet, denn es gebe schlicht keine Normen im Zusammenhang mit der Trinkgeldvergabe und schon gar keine Zehn-Prozent-Regel, so das Fazit des Wissenschaftlers.
So kommt zwar bei allen, die ein Restaurant besuchen, spätestens bei der Rechnung die quälende Frage «Wie viel darfs denn mehr sein?». Doch eigentlich müsste sich keiner darüber den Kopf zerbrechen. Denn Dobler kommt zum beruhigenden Fazit – und das ist vielleicht die grösste Erkenntnis seiner 289-seitigen Arbeit (pdf-File auf der Rückseite dieses Artikels) überhaupt: «Als Gast kann man in Deutschland (und sicher auch in der Schweiz, Anmerkung der Redaktion) zumindest in statistischer Hinsicht nichts wirklich falsch machen im Umgang mit Trinkgeld.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 14.12.12