Nach so viel Landschaft endlich wieder eine Stadt in Sicht: Angers. Doch zuerst wandere ich der Loire entlang, leihe meine Wasserflasche aus und am Abend wundere ich mich über Hände schüttelnde Busfahrer.
Grünlichgrau, an den Pfeilern der langen Brücke etwas drängelnd, aber sonst träge zog sie dahin, gestern Abend, die Loire, liess den Regen seine Kreise schlagen auf dem breiten Rücken, diesiges Licht und irgendwo in der Weite, wo das Meer dann beginnen sollte, verlor sie sich im Grau des Westens, bog um eine Waldsilhouette, die im Regendämmer noch zu erkennen war – so wie sie aus einer Silhouette im Grau des Ostens auftauchte.
Ein steter Regen am Hotelfenster, bis der Schlaf die letzten Geräusche erlöschte und dann eine heitere Ruhe am Morgen. Keine Wolke am Himmel und das erste, was ich tat, war auf die Strasse eilen, die hundert Meter zum Fluss hinunterspazieren, um im gleissenden Morgenlicht die Wälder im Osten, woher die Loire kommt, und jene im Westen gestochen scharf zu sehen. Es war, als höre man den Fluss erleichert atmen – nach all den Windungen durch das weite Land lag nun das Meer so fassbar nah. Das Meer, wo er sich gänzlich ausbreiten und verlieren konnte.
Wollte eigentlich auf raschem Weg nach Angers, um die Reise weiter zu planen, doch – am Ufer inmitten eines Heeres von rotem Mohn – entschloss ich mich, erst die Brücke zu überqueren, auf der anderen Seite flussaufwärts zu wandern und erst dann in einen Zug zu steigen, um ins nahe Angers einzufahren.
Eine riesige Brücke, am jenseitigen Ufer von Ingrandes weite Sandbänke, auf denen Eltern mit Kindern spazierten, herumtollenden Kindern. Erinnerten mich an die Lämmer in Britannien. Der Weg am jenseitigen Ufer war schön, nicht berauschend, aber überraschend. Montjean: Nach all den Kilometern durch endlose Ebenen erhebt sich plötzlich ein felsiger Hügel und darauf trohnt – natürlich eine Kirche. Es wird, dachte ich, hügliger werden in den nächsten Tagen. Die Schlösser an der Loire, von denen so viele doch schwärmen, werden nicht in der Ebene, werden auf Hügeln liegen.
Ein Schluck aus der Flasche
Ich kam flott voran, wollte aber noch ein bisschen Samstag in einer Stadt erleben, in Angers. Am Bahnhof von Savennières wartete bereits eine junge Frau, eben erst noch Mädchen gewesen. Ich vergewisserte mich bei ihr, dass hier der Zug nach Angers fahre. Als ich, durstig, die Wasserflasche aus dem Rucksack packte, fragte sie mich, ob sie einen Schluck Wasser trinken dürfe. Das erstaunte mich. Sie setzte die Flasche an. In Angers holte sie ein junger Mann ab. Sie umarmten sich innigst.
Angers ist eine sehr unprätentiöse Stadt. Kein grosses Getue um irgendwelche besondere Attraktivitäten oder historische Bedeutung. Einfach ein Zentrum mit mehreren zehntausend Einwohnern, wo an einem Samstagnachmittag alles ins grosse, fussgängerfreundliche Zentrum strömt, um das verdiente Geld auszugeben. Der Bahnhof ist zur gleichen Zeit und ähnlich schrecklich gebaut worden wie der in Rennes. Nur hat hier ein lokaler Künstler lebensgrosse, schwarze Metallskulpturen hinstellen dürfen, die Reisende in verschiedensten Posen darstellen. Verblüffend.
Bangen mit den Bleus
Kleiderläden hat es sehr viele, Souvenirläden sozusagen keine und um eine Buchhandlung zu finden, muss man grosse Recherchen anstellen. Doch es gibt immerhin einen Fnac. Bäckereien, Metzgereien, Kleiderboutiquen, Wäschereien oder Handy-Shops überbieten sich in ihren Schaufenstern mit Plakaten von den Bleus – der Nationalmannschaft, die in zwei Spielen an der WM kläglich versagt hat. Statt auf dem Weg zur Titelverteidigung zu schlendern, bangen die Helden und mit ihnen die Nation ums Weiterkommen in die Achtelfinals. Die Bars überbieten sich mit Aufforderungen, am Dienstag, wenn das entscheidende Spiel gegen Dänemark morgens um acht angepfiffen werde, gemeinsam auf die Breitleinwand zu schauen.
Die Leute kaufen Baguettes. Das tun sie auch in Rennes, in Orléans, in Paris – in Frankreich eben. Sie kaufen Kleider, Handies, CD´s – wie auf der ganzen Welt eben. Ausser den Baguettes ist es hier wie überall auf der Welt. Einer drückt mir einen Prospekt in die Hand: Ich soll Nokia kaufen. Hab ich schon gekauft – in Zürich. Eine Frau drückt mir einen gelben Zettel in die Hand: Ich soll bürgerlich wählen. Kann ich nicht, bin nicht Franzose. Sie erklärt mir trotzdem, warum man rechts wählen muss, um handlungsfähig zu bleiben. Das sagt die Linke und Mitte und Rechte in Zürich auch, in Berlin und Rom ebenfalls. Und tönt so abgedroschen, dass sich die Frau mit der gelben Wahlbroschüre fast etwas geniert, mir das Papier in die Hand zu drücken. Der mit dem Nokia-Zettel war viel selbstbewusster. Hat für seine verteilten Prospekte auch was Handfestes erhalten. Die Frau mit den gelben Zetteln kaum.
Mässiges Vorwahlfieber
Es gab nur gelbe Zettel, keine roten – zum Beispiel für die Linke. Und die Wahlen sind morgen. Keiner schaut hin, eher noch zu den Bleus. Plakate hin und wieder. Schlagzeilen in den Zeitungen – der Figaro drückt Chirac die Daumen, Le Monde beweint schon jetzt die Niederlage der Linken. Und im Fernsehen Rededuelle, Abfragereien. Aber es ist den Leuten egal. Sie wollen die Worthülsen nicht, «agir», «la Nation». Es wirkt so überholt, dieses Wählen – was geht es die Leute im Einkaufsfieber am Samstag an? Die Älteren fühlen sich verpflichtet, vielleicht, die Jüngeren haben die Politik aufgegeben. Sie stimmen mit dem Portemonnaie ab – Nokia statt Erikson. Franzose sein, das überlassen sie den Bleus. Morgen sind Wahlen in Frankreich. Ausser Zeitungsschlagzeilen, ein paar Plakaten und einsamen Wahlkämpferinnen mit gelben Zetteln im Einkaufsstrom erinnert nichts daran
Hände schütteln
Aber noch etwas erstaunte mich: Kaum hatte ich Frankreich, hatte ich die Bertagne betreten, fiel mir auf, dass sich die Männer bei jeder zufälligen Begegnung die Hand schütteln. Auf der Strasse, in der Bar. Schon inSt. Malo: Da war der alte Wirt heftigst mit dem Berechnen meines Zimmerpreises beschäftigt, als ein morgendlicher Gast im Restaurant unsere Unterhaltung störte. Der Gast reichte erst dem Wirt die Hand, dann mir, darauf bestellte er einen Pastis. Es kam, immer noch während des Berechnens des Zimmerpreises, eine weiterer Gast. Der drückte nicht nur dem Wirt und mir, sondern auch dem bereits anwesenden Gast die Hand.
Später, auf der Wanderung nach Dinan, als ich einen Blick ins WM-Eröffnungsspiel Frankreich – Senegal werfen wollte, trat ich in eine Bar, setzte mich auf einen Hocker und hatte das Gefühl, die Leute schauten mich befremdet an. Hatte mich einfach auf den Hocker gesetzt. Es kam dann ein älterer Dorfbewohner, auf ein Bier, der trat nicht einfach ein, sondern drückte allen die Hand. Auch mir. Dann erschien ein Lieferwagen-Fahrer, der vor der Bar parkierte, um schnell etwas zu trinken, er trat ein und schüttelte inklusive mir allen die Hand. Nun, ich lernte schnell: Hier gibt man sich die Hand.
Auf der Höhe von Rennes und Châteaubriant schien mir der Brauch nicht mehr so verankert zu sein (in Châteaubriant küssen sich enge Bekannte dafür viermal – zweimal links, zweimal rechts). Jedenfalls hatte ich das Gefühl, ich müsse mir das Handreichen nun doch nicht angewöhnen.
Doch in Angers, dieser grossen Stadt, wunderte ich mich nochmals. Ein städtischer Bus kreuzte in einer engen Gasse einen entgegenkommenden. Die beiden Gefährte stoppten kurz, die Fahrer reichten sich – auf gleicher Höhe – über die runtergedrehten Fenster hinweg die Hände. Freunde! dachte ich. Zweihundert Meter weiter dasselbe Schauspiel: Zwei entgegenkommende Busse: Beide hielten, die Fahrer kurbelten die Scheiben runter und reichten sich die Hände.
(Angers, 8. Juni 2002)