Viele sprechen von Film, wenn sie Kino meinen. Dass Film aber auch im Buch stattfinden kann, und nicht nur in einem Saal, wissen die wenigsten. Tipps für Lesetage im Weihnachtskerzenlicht. Wenn die Kinos zu sind.
Viele sprechen von Film, wenn sie Kino meinen. Dass Film aber auch im Buch stattfinden kann, und nicht nur in einem Saal, wissen die wenigsten. Dabei ist nichts schöner, als zwischen zwei Buchdeckeln in den Erinnerungen ans grosse Kino zu schwelgen. Mein zweiter Tipp für Lesetage im Weihnachtskerzenlicht.«Konventionen eines Sternmoments» von Phillipp Brunner.
Der erste Kuss ist für jeden irgendwie unvergesslich. Dramaturgie, Besetzung, Historischer Kontext, Setting, Ort, beteiligte Personen, Lichtverhältnisse, Wetter, ja selbst der Sound bleibt fürs Leben haften. Das erste Mal bleibt unkopierbar. Schon ab dem zweiten Kuss können wir uns bemühen wie wir wollen: Ist die Liebe erst einmal erklärt, läuft jede Wiederholung Gefahr, bald wie eine leere Formel zu klingen. Oder eine Filmszene.
In den «Konventionen eines Sternmoments» gibt es viele davon. Wie andere Bücher, die wir im Blog kommentieren, sind auch sei in der Reihe «Zürcher Filmstudien» bei Schüren erschienen. In dieser Reihe gibt es viele Dissertationen, die mit dem Gestus der Wissenschaftlichkeit vergnügliche Themen zu trockener Materie machen. Aber, da die Materie immer Film ist, ist die Gefahr selten gross, dass sie uns langweilt. Nichts ist schöner, als unter Freunden über den Lieblingsfilmen ins schwärmen zu geraten. Brunner ist so ein Freund. Und wenn er auch nur verhalten ins Schämen gerät: Wir dürfen es ungehemmt tun.
Im Kino sind erste Küsse zum Hinschauen. Auch in der Wiederholung. Ein guter Grund also für Brunner, bei diesem Sternmoment zu verweilen. Er verweilt gründlich. Die Beispiele, die er anführt, sind Legion. Teilweise erkennen wir sie wieder, neu bedacht. Teilweise lernen wir sie zum ersten Mal kennen, und erfreuen uns an Brunners Sichtweise. Godard folgt Lubitsch folgt Truffaut folgt Bier folgt Wilder.
Das Buch «Konventionen eines Sternmomentes» öffnet uns, ganz Nebenbei, die Tür zu einer kleinen Semiotik des Films. Erläutert uns Bildsprachen, setzt Sprachformen in linguistischen Zusammenhang und führt an unzähligen Dialogbeispielen seine Beweise: was es heisst, Sprache handeln zu lassen, Bildsprache in den Dienst eines einzigartigen Moments zu stellen. Dankbar verweilen wir in den Textausschnitten, lassen uns zurücksinken in die Erinnerungen an all die Filme.
Vieles mutet konventionell an, dient eben dem Leser in reiner Wissenschaftlichkeit, und beweist letztlich nur, warum die Sternmomente im Film wohl oft vorkommen, aber doch einmalig bleiben. Auch wenn die Sternmomente sich dramaturgisch gegenseitig auf heben, schafft Brunner immer wieder neue Aspekte, sie uns von einer neuen Seite zu erhellen.
Für den Afiscionado wird das Buch nie langweilig: Je reicher die emotionalen Dimensionen des Sternmoments aufgefächert werden, desto deutlicher wird uns gemacht, welch ein heiterer Dreh- und Angelpunkt die Liebeserklärung ist, da sie ja doch nur festzurren will, was sich kaum vorübergehend und schon gar nie auf ewig festhalten lässt. Meist kann schon die Antwort auf die Frage «wie sehr liebst du mich?» das nahe Ende erfahrbar machen. Ist die Antwort erst einmal gegeben, wird auch dem liebevollsten Liebenden klar, dass Liebeserklärungen die schmerzlichste Form unserer Vergänglichkeit anmahnen. Nichts kann uns das besser vor Augen führen, als der Konservator des Augenblicks – der Film – dass alles ein Ende haben muss.
Brilliant ist Brunner dort, wo er den Stand der Theorie neu zusammensetzt: Wie er etwa die Dimensionen der Emotionalen Verfahren des Films entzerrt: Und doch wünschte ich mir nicht, ich könnte meine erste grosse Liebe noch einmal in ihrem schmalen Zimmer besuchen und dort meine Gefühle so haarscharf genau analysieren, wie auch ihre Wirkung auf das Gegenüber ermessen. Es macht die Macht der meisten Sternmomente, die Brunner wählt, aus, dass die Beteiligten eigentlich alle irgendwie im Dunkeln tappen, obwohl sie scheinbar ihr Ziel erreichen. Und wir dürfen dabei sein. So wie wir es bei uns selbst nie sein durften.
Die erste Leibeserklärung wird uns gleich u Beginn als Pleonasmus vorgeführt: Die Kopie einer Liebeserklärung ist gleichzeitig ihre Negation. Auch wenn wir unserer zweitgrössten Liebe die Liebe ebenso wortreich erklären wollten, wie der ersten, allergrössten, so täten wir es immer doch erneut zum neulich ersten Mal, haben wir doch schon Hunderte von Liebeserklärungen mitgekriegt, und wissen, wie das geht, oder gehen soll: Wie im Kino.
Ich will deshalb niemandem raten, vor seiner ersten Liebeserklärung, die «Sternmomente» gelesen zu haben. Freilich werden Sie nach der Lektüre des Buches das Bedürfnis verspüren, sich wieder einmal, wie im Film, zu erklären … (so wie wir überhaupt immer öfter eher von der Wirklichkeit das Gefühl haben, sie sei wie ein Film, als vom Film, er sei die Wirklichkeit). Sie wissen ja jetzt, wie Sie eine Wiederholung umgehen.