Do heschs Gschängg: Film im Buch 1

Heute hat man die Filme im Handy dabei. Analoge Menschen benutzen hierfür auch mal ein Buch: Über Dokumentarfilme zum Beispiel liest man einiges in den «Spielarten des Dokumentarischen» von Thorolf Lipp, was man im Handy nicht findet. Ein Buch macht Filme besser lesbar Kinofreaks rümpfen gerne die Nase, wenn vom Dokumentarfilm die Rede ist. Documentaries […]

Heute hat man die Filme im Handy dabei. Analoge Menschen benutzen hierfür auch mal ein Buch: Über Dokumentarfilme zum Beispiel liest man einiges in den «Spielarten des Dokumentarischen» von Thorolf Lipp, was man im Handy nicht findet.

Ein Buch macht Filme besser lesbar

Kinofreaks rümpfen gerne die Nase, wenn vom Dokumentarfilm die Rede ist. Documentaries gehörten auf den Flachbildschirm und nicht auf die Breitleinwand, sagen sie. Im Filmjahr 2013 gehörten aber die Dokumentarfilme wieder zu den Kassenschlagern. Irren also all jene, die den Dokumentarfilm zu erfolgreichsten Sparte des Schweizer Films im Kino machen?

Da hilft Thorolf Lipp mit seinem Buch «Spielarten des Dokumentarischen», einem kleinen Leitfaden zum Dokumentarfilm, der uns in die Geschichte und die narrativen Formen des Dokumentarischen einführt. In einem übersichtlich gespannten Bogen streift Thorolf Lipp nicht nur die Geschichte des Dokumentarfilmes sondern erläutert damit auch die Narration aus medienanthropologischer Sicht. Lipp entwickelt dann die gängigen Unterscheidungsmerkmale innerhalb des Genres und schlägt schliesslich eine Brücke zum fiktionalen Film.

Der Dokumentarfilm zwischen Kunst und News

Dass auch der Dokumentarfilm eine Kunstgattung ist, wird weniger überraschen, als die Tatsache, dass 90% des Dokumentarischen für Nachrichten oder Nachmittagssendungen hergestellt werden. Der dokumentarische Kunstfilm ist aber weit mehr als Reportage oder ein Bericht.

Lipp sichtet die gesamte Bandbreite des dokumentarischen Filmschaffens: Er legt dar, dass Dokumentarfilme uns den Blick auf neue Schnittstellen von Fiktion und Wirklichkeit öffnen. Egal ob ein Dokumentarfilm mit Kunst der Mitwelt ihre Wirklichkeit zeigen will, oder, ob er die Wirklichkeit durch Kunst an den Tag bringt – in beiden Fällen entdecken wir auf der Leinwand neu repräsentierte Wirklichkeit. Dabei unterscheidet Lipp die historischen Spielformen des Dokumentarischen und kategorisiert sie gleichzeitig.

Die Dokumentation zum Dokumentarfilm

Dabei besticht vor allem Eins: Das Buch enthält auch eine DVD, die vor allem junge Leserinnen nicht nur trocken über die Filme lesen lässt, sondern auch Ausschnitte zeigt. Zum Beispiel die frühen Beispiele für plotbasierten Dokumentarfilme von Murnau und Flaherty. Besonders faszinierend: «Die Symphonie der Grossstadt» von Ruttmann oder «The Song of Ceylon». Sie schlagen die Brücke in die Moderne, auch den modernen Spielfilm.

Die Genres sind nämlich auch zahlreich, die dann auch den Fiktionalen Film befruchtet haben: Das «Cinéma Verité» hat den Weg für das moderne französische Kino ebenso begleitet wie das «Direct Cinéma» New Hollywood ermöglicht hat. Selbst Dokumentarfilme, die ganz ohne Text auskommen, haben narrative Strukturen erzeugt.

Lipp erläutert, wie der Dokumentarfilm sich seit Längerem zunehmend Beachtung verschafft, indem er sich auch bei den Mitteln des fiktionalen Films bedient: Die Gesetze des Dramas, der narrativen Spannung, ja, sogar einer fiktionalen Handlung finden zunehmend Eingang in das Genre: Plotbasierte Dokumentarfilme wie «Die Geschichte vom weinenden Kamel»oder die «Reise der Pinguine» sind schon fast Klassiker dieser Genre-Erweiterung. Die Fortsetzung in aktuellen Filmen wie «Workers» «La Jaula de Oro» ist aber nicht übersehbar. Heute ist der Einfluss des Dokumentarfilms fast in allen Spielformen des Fiktionalen erkennbar. 

Narrative Formsuche als Verbindung des Fiktionalen und des Nonfiktionalen

Lipp führt auch die neuen kommunikativen Ziele des Films an. Der Film, gerade der Dokumentarfilm, fügt das Gesehene oft verblüffend zum Geschauten: Gesehen haben wir alle schon einen Sozialhilfe-Empfänger. Aber haben wir hingeschaut? Dies eben können Dokumentarfilme: Uns Natur und Menschen sehen lassen, die wir sonst nicht anschauen.

Das ansehnliche Begleitmaterial, das auch neuere Filmbeispiele umfasst befreit von der lästigen Leserei über Filme, die man dann doch nicht gesehen hat, oder zumindest nicht mehr so genau in Erinnerung hat. Thorolf Lipp  ist auch in seinen Herleitungen einleuchtend gründlich. Selbst seine theoretischen Exkurse nehmen uns in einen zugänglichen Diskurs mit: «Die Spielarten des Dokumentarischen» ist eine perfekte Einstiegsdroge für jene, die sich in die Basics über den Dokumentarfilm vertiefen wollen.

Erschienen ist das Buch im Schüren-Verlag 2012 in Marburg.

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