Lukas Bärfuss‘ Theaterstück «Dora und die sexuellen Neurosen unserer Eltern» ging schon um die Welt. Jetzt hat Stina Werenfels den Stoff um weibliche Aspekte erweitert und filmisch aufbereitet. Grosses Kino, ja, ein kunstvoller Triumph.
Die Basler Regisseurin Stina Werenfels hat schon einmal mit grandioser Leichtigkeit Schauspielerinnen zu improvisierenden Ko-Autorinnen gemacht (in «Nachbeben»). Jetzt trifft sie auf einen der grossen Schweizer Theatertexte der letzten Jahre: «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» von Lukas Bärfuss ging als Provokation um die Welt.
Werenfels geht mit ihren filmischen Mitteln an den Text heran. Sie verlässt sich dabei auf ihren weiblichen Instinkt, erweitert den Text um die Wahrnehmungswelt der behinderten Dora.
Hauptdarstellerin Viktoria Schulz empfiehlt sich eindrücklich
So treffen sich in diesem Film gleich mehrer Glücksfälle: Stina Werenfels verlässt sich mutig auf eine Anfängerin als Hauptdarstellerin. Viktoria Schulz vermag als Anfängerin den Film zu tragen, spielt eine junge Frau, die, wiewohl behindert, ihre Sexualität ganz unbehindert auslebt. Und sie schafft es dabei grossartig, eine Behinderung glaubhaft machen, die in einen trotzigen Freiheitsakt mündet.
Der zweite Glücksfall: Werenfels beweist mit ihrem Kameramann Lukas Strebel Mut zu einer ungewöhnlichen Optik. Sie drängt uns gleich zu Beginn in Doras subjektive Sicht und überlässt uns dort dem Staunen, Wundern, Entsetzen. Ist es die Lust des Kindes? Der verschwommene Blick der Neugier? Oder die Ahnung des Opfers, die uns vor Augen geführt werden soll?
Die verschwommenen Nahbilder machen uns gleich zu Beginn klar: Da sucht man Klarheit in vernebeltem Gebiet. Wir sehen in der Folge durch Doras Augen. Die Medikamente werden abgesetzt. Die Sexualität wird entdeckt. Das schafft sofort viel Nähe und dann ausgerechnet da eine Distanz der Übernähe, wo plötzlich alles beklemmend nahegeht.
Schonungslose Augenblicke
Doch die Kindfrau will in ihrer Weise ihr erwachsenes Leben finden. Wir tänzeln mit ihr auf Gartenfesten. Erst als Dora ihren Missbrauch will, setzt erstmals die Schwiegermutter-Wahrnehmung ein.
Der Liebhaber ist ein ausgesuchter Stinkstiefel (von Lars Eidinger überzeugend gezeichnet). Der egomane Nutzniesser ist aber auch der Einzige im Film, der Doras Freiheitsdrang Raum gibt. Die Eltern, Urs Jucker und Jenny Schily, sind hilflos, passiv und mit sich selber beschäftigt.
Ein weiterer Glücksfall für den Film ist ohne Zweifel das Drehbuch selbst: Werenfels hat dem Stück eine neue Kraft entlockt, die von der Lustsuche der Frau ausgeht.
Wo der Film schwächelt: Die Beziehung der Eltern bleibt etwas fahl. Sie dienen der dramaturgischen Konstruktion. Ihr Konflikt wird nicht gelebt, sondern vermieden: Ihre Sexualität ist instrumentalisiert durch den eigenen Kinderwunsch. Die Eltern erweisen sich zumindest nicht als das, was uns der Titel erwarten liesse: als neurotisch.
Bärfuss-Text als starker Kern
Stina Werenfels hat bei ihrem riskanten Projekt mit Samir einen Produzenten (und Ehegatten) an ihrer Seite gewusst, der selber gerne mit formalem Spiel in der Optik experimentiert. Das Team von «Dora» hat dem Stoff jene filmische Dimension gegeben, die das Stück in unsere Zeit bringt. Die Aussage des Theatertextes ist vertieft und verstörend klar erweitert worden. Die Sexualität ist auch heute nur so frei wie jene, die sie geniessen können.
Werenfels ist geglückt, was im Schweizer Film nur selten glückt: Formal und inhaltlich mit Köpfchen das Publikum vor das Köpfchen zu stossen, zu unterhalten und zu erwärmen. Das Stück von Lukas Bärfuss erweist sich im Film erneut als starker Kern.
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Am Freitag, 20. Februar, findet um 18.30 Uhr eine Sonderveranstaltung im Basler Kult-Kino Atelier statt – mit anschliessendem Gespräch mit Regisseurin Stina Werenfels und Co-Drehbuch-Autor Boris Treyer.