«Korrupter Politiker» gilt in vielen Ländern als Pleonasmus. Der russische Filmemacher Yuriy Bykov hat einen politischen Film über Korruption gedreht, rund um einen ehrlichen Narren («Durak»), der gewillt ist, Menschenleben stärker zu gewichten als finanzielle und gesellschaftliche Privilegien. Eindrücklich.
In «Durak», einem traditionellen russisches Kartenspiel, muss man möglichst schnell alle Karten loswerden. Als «Durak», also als Narr, wird derjenige Spieler bezeichnet, der als Letzter die Karten auf der Hand hat. Insofern gibt es keine Gewinner in diesem Spiel – und einen Verlierer.
Wenn der Russe Yury Bykov seinen Film über die Korruption in Russland also nach dem Kartenspiel benennt, weiss er, worüber er spricht: Über Verlierer in einem Kartenhaus. Hier will einer eine klassische Parabel im Film politisch und psychologisch zu Ende denken.
Das Begriffspaar «korrupter Politiker» gilt in vielen Ländern als ein Pleonasmus. Wer ihn benutzt, gilt leicht als Narr. Yuriy Bykov, der Regisseur von «Durak» («Der Narr»), macht sich also gewissermassen selbst zum Narren, wenn er einen politischen Film über Korruption dreht. Das hat aber auch seine Vorteile, wie man aus den Zeiten lernen kann, als dem Narren allein die freie Meinungsäusserung gestattet war. Die Kunst war seine unschlagbare Waffe.
Vertraute Namen für russische Theaterfreunde
Gleich dreimal ist «Durak» am Filmfestival Locarno 2014 mit einem Preis gekrönt worden. Unter anderem ging die Auszeichnung für den besten Schauspieler an Artem Bystrow. Der russische Regisseur Yuriy Bykov hat für sein grandioses Schauspielerfest tatsächlich die Crème de la Crème der Darsteller-Gilde um sich versammelt.
Die Wucht jener russischen Grosskünstler, die da noch immer am «Mchat» in Moskau und anderen russischen Theatern arbeiten, ist gewaltig. Uns hingegen sind die Gesichter kaum bekannt. So neu die Gesichter uns vorkommen, so vertraut klingen ihre Namen für das russische Theaterohr: zum Beispiel eben Artem Bystrow.
Fast am Bildrand setzt Yuriy Bykov zu Beginn seiner Parabel den Star des russischen Theaters, Artem Bystrow, in eine Grossfamilie – als ein Gesicht unter vielen. Im Zentrum: ein Mütterchen Russland, das Hof hält. Neben ihr streitet der Vater – ein guter Mensch.
Das Schlechte des Kommunismus ist geblieben
Der Vater will die Sitzbank vor dem Haus reparieren, die Vandalen zerstört haben. Der Sohn will da nicht mehr mitmachen, bei diesem Flickwerk. Die Mutter weist beide zurecht. Sie sollen sich nicht um die Angelegenheiten anderer kümmern.
Bild um Bild seziert Yuriy Bykov zu Beginn die Familie, indem er ein Beziehungsnetz grandios in Bilder auflöst. Damit ist bereits eine seiner ganz grossen Fähigkeiten benannt: Menschen beobachten.
Yuriy Bykov reist in «Durak» weiter, nach «ganz unten» – wie Maxim Gorki einst in seinem «Nachtasyl». Dorthin, wo die Ärmsten leben. Dabei lässt er auch das wuchtige Vorstadt-Ghetto der nachkommunistischen Ära als Hauptperson agieren.
Das Schlechte des Kapitalismus ist dazugekommen
In einem Wohnheim ist die Stimmung aufgeheizt. Als der betrunkene Vater seine Tochter verprügelt, birst im Bad ein Wasserrohr und verbrüht ihn. Dorthin wird Nikitin (Artem Bystrov) als Notfalldienst gerufen: Als er um Mitternacht den Schaden besichtigt, stösst er auf mehr als nur ein leckes Rohr. Ein Riss geht durchs ganze Haus. Der Ingenieurstudent Nikitin weiss sofort, was das heisst. Das Haus ist akut einsturzgefährdet.
Ein Riss in der Gesellschaft
Hier geht es um mehr als nur einen Rohrbruch. Nikitin will die Bewohner warnen und ist entschlossen, den Missstand an höherer Stelle zu melden. 819 Menschenleben sind in unmittelbarer Gefahr.
Doch ausgerechnet in dieser Nacht feiert seine oberste Chefin ihr Jubiläum, mit all jenen, die für den Einsturz verantwortlich sind. Seine Mutter weiss, was das heisst: Nikitin müsste deren Party sprengen. Sie weiss aber auch, dass er seine Chefin der Korruption überführen muss. Sie warnt Nikitin vor dem Schritt. Doch dieser ist nicht nur ein gradliniger Klempner und cleverer Student. Er ist auch ein ehrlicher Mensch.
Viel Old-School-Didaktik
Nikitin handelt unbeirrbar, mit der Gradlinigkeit seines Vaters, der sich mit dem gelebten Prinzip, nicht schmieren und nicht schmieren lassen, zwar keine Freunde gemacht hat, aber auch keine Feinde.
Yuriy Bykov verbindet seine erbarmungslose moralische Urteilssuche mit all seinen Vorbildern: Unbeirrt von allen modischen Zynismen skizziert er vor unseren Augen eine korrupte Stadtverwaltung, die «vom Kopf her fault». Immer stärker fokussiert er seine Parabel auf die Frage: Reicht Nikitins wohlmeinende Kraft als Einzelkämpfer, die Korruption auszuhebeln?
Wir kennen derartige narrative Diskussionen der Moral aus dem Theater von Ibsen, Hauptmann, Brecht. Wir kennen die bedingungslose Authentizität aus den heutigen Theater-Inszenierungen des Alvis Hermanis. Wir kennen die absolut unzynische Emotionalität der Schauspieler aus dem grossen russischen Film. Sie gehen auch in «Durak» weit über die Schmerzgrenze hinaus.
In der grossen Traditon der russischen Erzählkunst wird das Einzelschicksal zum Schicksal aller: Als der Retter Nikitin selbst in die Enge gerät, führt Yuriy Bykov uns ganz langsam an ein mögliches Ende der Parabel: Wie der «Selbstmörder» von Nikolai Erdmann oder der Yankev-Yosl, in «75 000», von Sholem Aleichem fällt auch in dieser russischen Geschichte der Retter in Ungnade, der Erlöser wird zum Sündenbock.
Nutzniesser und Mitwisser der Korruption
Yuriy Bykov steuert Bild um Bild, didaktisch oft überdeutlich, auf seine Klimax zu und führt uns gleichzeitig vor Augen, warum Mafia und Korruption in jeder Gesellschaft so hartnäckig sind. Wer naiv genug ist, sie anzuprangern, begegnet rasch dem ersten Hauptgesetz der Korruption: Nutzniesser sind nur wenige. Mitwisser sind alle. Wer einen Nutzniesser anzeigen will, ist meist bereits Mitwisser. Viele Mitwisser machen Nutzniesser erst zu Machthabern.
Nikitin gehört keiner der beiden Gruppen an. Erst entgeht er einem Tötungsversuch der Nutzniesser. Dann wird er von den Mitwissern ganz unten verprügelt, die in ihm bereits den Sündenbock sehen. Ein Retter ist er da längst auch bei jenen Opfern nicht mehr, die er hatte vor den Nutzniesser retten wollen. Als Narr wird er schliesslich ausgestossen.
«Durak» ist aber auch subtil: Auch der Riss in der Gesellschaft wird totgeschwiegen. Wer nicht schweigt, wird totgemacht. Am Ende erfährt Nikitin, was ihm sein Vater bereits vorgelebt hat: Wer Korruption anzuprangern wagt, kann einsam werden. Im letzten Bild bleibt auch Nikitin allein. Der Narr hat seine Schuldigkeit getan. Der Narr kann gehen.
Das russische Gegenprogramm der Kunst
«Durak» ist ein kunsttvolles Gegenprogramm zur offiziell geschönten Sotschi-Fassade der russischen Oligarchie. Der Film ist aber auch ein Loblied auf die gute alte russische Literatur, die Geschichten via Menschenschicksale erzählen kann.
Wer wieder einmal daran erinnert werden möchte, woher grosse realistische Schauspielkunst einst kam: Hier trifft jeder den literarischen Ton auf den Punkt. Auch wenn das Spiel der Mächtigen manchmal eher didaktisch wirkt – der Film hat die Tiefenwirkung eines Dostojewski-Romans. Und nicht zuletzt erinnert auch der Titel an das literarische Vorbild des grossen Russen, einem weiteren Verwandten des Durak: «Der Idiot».
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Der Film läuft u.a. im Basler Kultkino Camera.