Ein Bericht, der zur Unzeit kam

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Bergier-Berichts erlebt die Romandie noch einmal eine Debatte über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. In der Deutschschweiz bleibt es ziemlich ruhig.

Wenig Interesse für den Bericht der Bergier-Kommission: Das Parlament wollte nicht einmal darüber sprechen. (Bild: Foto: Martina Senn)

Zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Bergier-Berichts erlebt die Romandie noch einmal eine Debatte über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg. In der Deutschschweiz bleibt es ziemlich ruhig.

Dass zehn Jahre nach der Veröffentlichung des Bergier-Berichts zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg dieses Ereignisses gedacht wird, mag man als selbstverständlich hinnehmen. Ein bisschen erstaunlich ist es aber schon, weil dieser Bericht nach 2002 – leider – sehr schnell in der Versenkung verschwand und nicht die Wirkung hatte, die man, gemessen an der Wichtigkeit des Themas sowie am betriebenen Aufwand, ihm eigentlich hätte wünschen müssen.

Der Bericht selbst war allerdings bloss aus der Not geboren, von aussen sozusagen aufgedrängt und nicht einem eignen, inneren Bedürfnis entsprungen. Diesen Ursprung vor Augen, kann man dennoch feststellen, dass sich die «Übung» gelohnt hat. Die international geschmähte Schweiz wurde mit ihrer historischen Aufarbeitung vom Prügelknaben schnell wieder zum Musterknaben. Und wahrscheinlich hat es sich auch mittel- und längerfristig gelohnt, selbst wenn die unmittelbaren Reaktionen auf den Bericht teilweise zu wünschen übrig liessen.

Im Kernpunkt der vor zehn Jahren auf die Schweiz ausgeübten Pression ging es nicht um historische Erkenntnisse, nein, die «Ankläger» forderten schlicht «cash» – oder «Stutz». Und wie die Schweizer Banken im August 1998 in einem privaten Deal 1,25 Mil­liarden Dollar herausrückten, war der Fall sozusagen erledigt. In der Folge liess auch in der Schweiz das Interesse an ihrer Vergangenheit schlagartig nach.

Nach dem Vorwurf an die Banken, sie seien zu eigennützig mit den liegen gebliebenen Vermögen von Holocaust-Opfern umgegangen, ging es diesen mit dem «Freikauf» in der Hauptsache darum, den US-Markt nicht zu verlieren. Die auf fünf Jahre (Dezember 1996–Dezember 2001) angelegte Arbeit der Historikerkommission wurde in der Folge nicht nur als überflüssig, sondern sogar als störend empfunden.

Zwar leistete die Installierung einer solchen Kommission vorerst hervorragende Dienste: Mit dem Argument, die Resultate der Kommission abwarten zu wollen, musste die offizielle Schweiz vorerst nicht sogleich Stellung nehmen. Und als die Ergebnisse vorlagen, wollten es die wenigstens noch wirklich wissen. So begnügte sich die Landesregierung im März 2002 (eben vor zehn Jahren) mit einem höflichen Dank, und das Parlament hielt es für überflüssig, den von ihm in Auftrag gegebenen Bericht zu diskutieren.

Die Presse machte im März 2002 alles in allem einen ausgezeichneten Job und berichtete eingehend über die Resultate. Die Kommission brachte es leider nicht zustande, ihre in einem Syntheseband von über 600 Seiten und 20 Ergänzungsbänden auf über 10 000 Seiten ausgebreiteten Ergebnisse in einer publikumsfreundlichen Kurzfassung zu vermitteln. Das historische Paket kann, wie der Schriftsteller Lukas Bärfuss in seinem jüngsten Stück gezeigt hat, dem armen Nachgeborenen in der Tat wie ein Klotz auf den Kopf fallen.

Fehlleistung auf Englisch

Selbst der auf Wunsch des Kommissionspräsidenten bei einem sonderbaren Kleinverlag erschienene und für viel Geld in drei weitere Sprachen übersetzte Syntheseband fand bloss geringe Verbreitung. Das war im Falle der englischen Version (mit 1000 Exemplaren) eine ärgerliche Fehlleistung.

Zur Neutralisierung der kritischen Bergier-Befunde liess ein privates Komitee mehrere vor 1995 erschienene Geschichtsbücher ins Englische übersetzen und gratis an amerikanische Bibliotheken verteilen. Ohne persönliche Nachhilfe hätten die neuen Forschungsergebnisse nicht einmal den Weg in die Unibibliothek von Cambridge (UK) gefunden.

Selbst in der Schweiz erreichte der Bergier-Bericht nicht die gleich grosse Aufmerksamkeit wie die – im Sinne einer weiteren Reaktion – lancierte Registrierung von Zeitzeugenstimmen: Die Bergier-Arbeiten waren noch nicht abgeschlossen, da wurde zur Satisfaktion der Aktivdienstgeneration mit viel Aufwand (das heisst 555 Video­porträts) deren Erinnerungen und Einschätzungen registiert.

Widersprüchliche Bilder

Mit der Inventarisierung der Blicke «von unten» kam wenig Neues zum Vorschein, was man nicht schon längst wusste. Aber es liess sich belegen, wie vielfältig und auch widersprüchlich die Vergangenheitsbilder waren und dass es «die» Aktivdienstgeneration nicht gab. Die mit dem typischen Titel «L’Histoire c’est moi» daherkommende Schau ermöglichte es aber, sich selbst in die Geschichte einzusortieren, ohne sich mit übergeordneten Vorgängen auseinandersetzen zu müssen.

In mehrerer Hinsicht war die Ber­gier-Arbeit indessen nicht für die Katz. Als Neben- und Folgeprodukt entstand das 150 Seiten umfassende Unterrichtswerk «Hinschauen und Nachfragen». Es wurde mit dem Worlddidac Award ausgezeichnet und verkaufte sich in 10 000 Exemplaren. Mitarbeiter der Bergier-Gruppe (Barbara Bonhage/Gregor Spuler) waren an der Ausarbeitung beteiligt. Das veranlasste nationalistische Patrioten, reflexartig, aber zum Glück erfolglos ihre Geschütze gegen dieses Schulprojekt zu richten.

Wahrscheinlich wären diese vorliegenden Zeilen nicht geschrieben worden, hätten dem Bergier-Bericht gegenüber positiv eingestellte Exponenten der französischen Schweiz nicht zwei grosse Reflexionsveranstaltungen auf die Beine gestellt: eine Podiumsdebatte, an der auch alt Bundesrätin Ruth Dreifuss mitwirkte, und eine, an der 400 Schülerinnen und Schüler teilnahmen. Diese Aktion hatte wiederum eine vehemente Reaktion in Form einer Forums- und Leserbriefdebatte zur Folge, in der sich vor allem die alten Gegner des Bergier-Lagers zu Wort meldeten.

Debattierfreudige Romands

Die Pro- und Kontrakräfte sind in der deutschen- und französischen Schweiz etwa die gleichen. Warum also eine Debatte dort und nicht hier? Vielleicht ist man in der Suisse Romande in Geschichtsfragen etwas debattierfreudiger, der Rest ist Zufall, ist zurückzuführen auf eine Einzelinitiative, eine Aktion, die dann sogleich zu Gegenaktionen geführt hat, wie sie auch in der deutschen Schweiz aufgekommen wären.

Frank Bridel, mindestens achtzigjähriger Generalstabsoberstleutnant, lic. iur. und Unternehmenspublizist, hatte bereits 2002 die Bergier-Kommission im Visier, 2009 wieder und jetzt natürlich erneut. Der 2009 gewählte Titel «Pour en finir avec le Rapport Bergier» (um ihm ein Ende zu bereiten, ihn endlich zu erledigen) will offensichtlich nicht in Erfüllung gehen.

In seiner jüngsten Intervention machte er das, was bereits vor 10 Jahren praktiziert wurde: Um sich nicht ernsthaft mit den Resultaten auseinandersetzen zu müssen, meinte er vor allem die Zusammensetzung der Bergier-Kommission thematisieren zu müssen. Dabei scheute er nicht davor zurück, Saul Friedländers Kompetenz als Historiker in Zweifel zu ziehen, weil dessen aus der Schweiz vertriebene Eltern in der NS-Vernichtungsmaschine umgekommen waren («Le Temps» vom 28. März 2012).

Weil der Bergier-Bericht von wenig kompetenter Seite angegriffen wurde, heisst das nicht, dass er nicht auch schwache Seiten hat. Diejenigen, die – wie der Schreibende – daran gearbeitet haben, wissen das sehr wohl.

Der von Parlament und Bundesrat erteilte Hauptauftrag dürfte jedoch erfüllt worden sein. Eine der grossen Schwächen ist, dass nicht genauer ausgeleuchtet wurde, wer in welcher Weise den Handelsaustausch mit dem Dritten Reich betrieb. Ein Teil davon entsprang sicher objektiven Notwendigkeiten (Versorgung und Arbeitsbeschaffung). Ein anderer Teil erfolgte bloss aus rücksichtslosem Gewinnstreben und wird nun nachträglich pauschal mit nationalen Bedürfnissen gerechtfertigt.

Sakrosanktes Geschichtsbild

Die heftigen Reaktionen auf das 10-Jahr-Gedenken sind letzte Zuckungen von Zeitgenossen, die sich – was verständlich ist – ihr Geschichtsbild nicht nehmen lassen wollen. In den Kriegsjahren selbst waren die Selbsteinschätzungen allerdings kritischer als die in den Jahren nach 1945 gepflegten Bilder. Die Bedeutung der Kriegsjahre hat sich inzwischen aber doch stark gewandelt und ist für die meisten nicht mehr selbst gelebte Geschichte, sondern einfach nur noch «Stoff» der Geschichte – ein historisches Thema wie andere Themen.

Schon bald, das heisst in anderthalb Jahren, wird unser Interesse mit einem Jahrhundertgedanken sehr stark auf die Jahre des Grenzdiensts im Ersten Weltkrieg gelenkt werden. Die Vorbereitungen dieser Rückblicke sind bereits angelaufen. Die Jahre 1914–1918 sind über den Debatten um den Zweiten Weltkrieg zu stark in Vergessenheit geraten. Sie können aber Anschauungsmaterial und Fragen bieten, die nicht weniger interessant und relevant sind.

  • Der Autor dieses Artikels war Mitglied der Bergier-Kommission, welche die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aufarbeitete.

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12

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