Ein erotisches Sittenbild der französischen Gegenwart

«La Vie d’Adèle» hat in Cannes eine goldene Palme erhalten. Herausragend ist der Film nicht nur in seiner Länge: Drei Stunden folgt er freizügig einer jungen Frau auf dem Weg zu ihrer Berufung. Auch die heissen Diskussionen danach machen ihn zu einer Provokation der Sinne. Erst kam der Erfolg. Ganz Frankreich diskutierte über den Film. […]

«La Vie d’Adèle» hat in Cannes eine goldene Palme erhalten. Herausragend ist der Film nicht nur in seiner Länge: Drei Stunden folgt er freizügig einer jungen Frau auf dem Weg zu ihrer Berufung. Auch die heissen Diskussionen danach machen ihn zu einer Provokation der Sinne.

Erst kam der Erfolg. Ganz Frankreich diskutierte über den Film. Dann begann die Film-Crew zu plaudern. Die Techniker monierten die unfeinen Arbeitszeiten. Dann gaben die Schauspielerinnen  Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos Details ihrer Dreharbeiten preis. Der Regisseur Kechiche mimte die beleidigte Diva. Plötzlich wollte sich niemand mehr am Erfolg freuen. Schadet der mediale Schaumschlag dem Film, oder haben die Beteiligten ihn aus Freude am Spiel inszeniert?

Die französische Vorstadt

Erst fährt ihr der Schulbus fast vor der Nase weg. Dann kann Adèle sich in der Schule nicht auf Marivaux konzentrieren. Ihre Hose rückt sie beim gehen ungeduldig zurecht. Adèle ist unter Druck. Ihre Freundinnen pflegen nicht nur eine direkte sexuelle Sprache. Sie spielen das Spiel von Liebe und Zufall aktiv. Da ist der sexuelle Umgang fast Pflicht.

Abdellatif Kechiche hat für «La Vie d’Adèle» in Cannes eine goldene Palme erhalten, für einen Film, der nicht nur in der Länge herausragt: Drei Stunden folgt er einer Schülerin auf dem Weg zum Lehrerberuf. In diesen drei Stunden umreisst Kechiche die Sitten seiner Zeit in zwei Familienbildern: Zwei Frauen, die ihren Berufungen folgen – als Künstlerin, als Lehrerin, als Frau, als Fraufrau, als Mannfrau.


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Das französische Spiel von Liebe und Zufall

In «La Vie d’Adèle» tändeln die Girls, die Jungs tänzeln. Adèles staunende Augen schweifen über den Pausenplatz, während sie sich hinter der gepflegten Sprache versteckt, bis der «Coup de Foudre» sie trifft: Sie verliebt sich. Sie hat nur noch Augen für einen Haarschopf. Sie küsst zwar erst noch einen anderen Jungen. Aber dann ist sie hoffnungslos verloren. Sie freundet sich mit Emma an, und dem Gedanken, dass sie selber vielleicht auch lesbisch ist. Dann liegt Adèle mit Emma im Bett.

Die Liebe trifft. Die Liebe wächst. Die Liebe fordert ihren Tribut. Es dauert eine Weile, bis Adèle sich  in den Kreisen von Emma zurechtfindet. Noch länger dauert es, bis sie selber aus den Kreisen tritt, zu denen sie gehört. Jetzt fängt das Versteckspiel an. Jetzt gilt es die Worte zu wägen, über die anderen, die Neigungen, die Lesben, zu denen sie mit einem Mal gehört.

Die Kultur des Hohen mit dem Niederen verbinden

Es ist eine der herausragenden Qualitäten des Films, dass Kechiche das Niedere der Liebe mit dem Höchsten verbindet: Während die eine Familie mit halboffenem Mund Spagetti mampft, schlürft die andere zwischen gespreizten Fingern Austern. Erst setzt Kechiche die Metaphern der Sprache der Liebe ins Bild: Da geht «etwas unter die Haut» oder «man hat etwas zum fressen gern» oder «lässt gerne auf der Zunge zergehen» was auch «durch den Magen geht»: Erst danach werden auch die Liebeszenen explizit. Dieser Spagat von Hohem und Niederem macht Kechiches Liebesfilm zu einer sinnlichen Breitleinwand.

«La Vie d’Adèle» vermag die Sprache Marivaux’s mit dem Erlebnishunger der Anaïs Nin und der Pornografie der Cartoonistin Julie Maroh zu verbinden. Kechiche kann die Gassensprache mühelos gegen die Sprache der Klassik einsetzen. Die Sexualität steht für den Hunger, der auf allen Ebenen der Kultur seinen berechtigten Ausdruck findet – und seine Sprache hierfür immer neu entwickelt.

Une histoire pornografique

In seinen freizügigsten Szenen folgt Kechiche mit seinen waghalsigen Hauptdarstellerinnen Léa Seydoux und Adèle Exarchopoulos den Vorgaben Julie Maroh’s. Sie entwickelt in ihrem Comic «La Vie d’Adèle – Chapitres 1 et 2» die Erotik ihrer Bilder mit expliziten Federstrichen. So sind auch die Szenen im Film. Ehrlich, ungekünstelt und kunstvoll lang. Er verführt nicht nur dazu, Körper zu entdecken, sondern auch mit den klassischen Philosophen über das Leben nachzudenken.

Er geht aber auch weiter: Er zeigt nicht nur das Coming Out einer jungen Frau, sondern er denkt es auch zu Ende: Auch die beiden Frauen sind gefangen im Spiel von Begehren und Eifersucht. Bald ist Adèle hörig, und Emma prügelt sie. Die Geschichte dieser Liebe liest sich wie ein Werkverzeichnis Marivaux’s: «La Seconde Surprise de l’amour», «Les Fausses Confidences», «La Double Inconstance».

Dennoch ist der Film nicht nur verblüffend freizügig. Er ist auch erstaunlich gelassen der Freiheit verpflichtet, das Leben zu entdecken, Beruf wie Berufung finden und leben und auszuprobieren zu dürfen. Es ist ein zutiefst im französischen Ésprit verwurzelter Film: Standesbewusst, der Philosophie verpflichtet, den Denkern der Freiheit folgend, aus der Tradition der Sprache der Liebe in der französischen Literatur schöpfend und mit kulinarischem Feingefühl zubereitet. Ein 180-minütiges Sittenbild der französischen Gegenwart am Rande der Städte.   

Der Dreh mit dem Dreh

Was sich nun in der Drehzeit begeben haben mag, darüber darf in Chats und Schnell-Kommentaren spekuliert werden. Was die Beteiligten mit ihren Plaudereien danach an den Tag gebracht haben, ehrt eher die Schauspielerinnen und den Regisseur in ihrer ehrlichen Scheu vor so viel Öffentlichkeit: Das, was sich diese Künstlerinnen abverlangen liessen, hat im Film eine grosse Authentizität, gerade weil der Mut und die Exzentrik frisch und unverbraucht spürbar ist.

Eine brillante Provokation entsteht nie einfach nur aus routiniertem Kalkül. Routiniert ist eher der Medienrummel, der dann über etwas gemacht wird, was eigentlich noch intimer ist als jede Liebeszene: Der künstlerische Prozess. Er führt durch wesentlich mehr Privatheit oder emotionale Herausforderung als das Resultat am Ende vermitteln mag. Und das ist nie obszön, sondern immer auch das künstlerische Risiko erwachsener Menschen. 

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