Ein Jahr danach: Erinnerung an das gewaltsame Ende des arabischen Frühlings

Das Protestcamp an der Rabia-al-Adawija-Moschee in Kairo wurde am 14. August 2013 von der Polizei geräumt. Es gab eine Vielzahl von Toten. Unsere Leserin Fahima Hasanein ist Deutsche und wohnte die letzten Jahre mit Mann und Kindern in Kairo. Sie beschreibt, wie sie die Räumung erlebt hat. Morgen nun also ist ein Jahr herum, ein […]

Das Handzeichen mit den vier hochgestreckten Fingern hat sich unter Protestanten im arabischen Raum als Symbol für die Einforderung von Bürger- und Menschenrechten etabliert. Es erinnert an die Todesopfer der Räumung am Rabia-al-Adawija-Platz.

Das Protestcamp an der Rabia-al-Adawija-Moschee in Kairo wurde am 14. August 2013 von der Polizei geräumt. Es gab eine Vielzahl von Toten. Unsere Leserin Fahima Hasanein ist Deutsche und wohnte die letzten Jahre mit Mann und Kindern in Kairo. Sie beschreibt, wie sie die Räumung erlebt hat.

Morgen nun also ist ein Jahr herum, ein Jahr, seitdem es zu dem schrecklichsten Massaker in der Geschichte Ägyptens kam. 

Ein Tag, der ein tiefer Einschnitt in mein damaliges Leben darstellen sollte. Ich weiss noch, dass Sharif, mein Mann, und ich in der Nacht vor dem Angriff auf die Demonstranten bis in die frühen Morgenstunden vor dem Fernseher beziehungsweise dem Internet sassen, weil wir irgendwie spürten, dass etwas geschehen würde.

Nach Ankündigung der Räumung passiert zunächst nichts

Tage zuvor liess bereits das Innenministerium verkünden, in den nächsten Tagen würden die Sit-ins vom Rabia- und Nahda-Platz geräumt werden.

Da sich nichts tat, fielen wir schliesslich todmüde gegen 5 Uhr morgens ins Bett. Als meine Schwägerin eineinhalb Stunden später anrief, um zu fragen, ob Sharif zuhause sei oder nicht, hätte ich eigentlich aufmerksam werden sollen. Aber müde wie ich war, reichte ich schlaftrunken den Hörer an Sharif weiter, der auch nur murmelte, alles sei ok.

«Tote im Minutentakt!»

Abermals eine halbe Stunde später, um 7 Uhr morgens, klopfte mein Bruder, der damals mit seiner Familie bei uns zu Besuch war, an die Schlafzimmertür: «Sie haben angefangen!» Ich sprang aus dem Bett und rannte zum Fernseher, mein Bruder rief mir bereits entgegen: «Tote im Minutentakt!»

Fassungslos stand ich vor dem Fernseher, sah einen Rabia-Platz vollkommen in Tränengas gehüllt, Menschen, die aufgeregt und hilflos hin- und herliefen, und immer wieder Schüsse. Im ägyptischen Staatsfernsehen hingegen lief das normale Programm – kein Wort fiel über die Räumung. Innerlich dachte ich mir, die Polizei wird das doch nie schaffen, diesen riesigen Platz mit den vielen Menschen zu räumen… Ich sollte mich irren. 

Vor dem Fernseher um Freunde und Verwandte bangen

Ich weckte schnell Sharif auf, der sich gleich anzog und sich auf den Weg machte – zum Rabia-Platz. Der Abschied fiel mir schwer, wusste ich doch nicht, ob ich Sharif je wiedersehen würde.

Irgendwann wurden die Kinder wach, so dass wir den Fernseher ausschalten mussten. Natürlich bekamen sie mit, dass Spannung in der Luft war und etwas nicht stimmte, irgendwie habe ich es ihnen erklären können. 

Den Tag verbrachte ich dann hauptsächlich vor dem Laptop und am Telefon. Sharif hatte mir bereits beim Abschied gesagt, dass er sein Handy die meiste Zeit ausgeschaltet sein lässt, damit der Akku nicht zu schnell leer wird, so dass es sowieso sinnlos war, ihn anzurufen. 

Warum diese Brutalität?

Den ganzen Tag über bekam ich Anrufe von Freundinnen und Bekannten, die nach Sharif fragten, aber auch von Freundinnen, die mir von Bekannten erzählten, deren Ehemann, Sohn, Vater oder Tochter erschossen wurden. Ich war geschockt, sagte mir immer wieder, das kann doch nicht sein, wieso diese Brutalität?

Hin und wieder rief Sharif mich an, um mir zu sagen, dass er OK sei. Dann dieses Foto, das jemand auf Facebook gepostet hatte, von einer Freundin von mir mit ihrer Tochter im Arm, das Kind so alt wie unsere jüngere Tochter, beide auf der Flucht vor dem fürchterlichen Tränengas.

Kurze Zeit später erfuhr ich, dass sie sich in einem umliegenden Mehrfamilienhaus versteckt hielt. Wie sie entkam, weiss ich nicht, wir haben nie darüber sprechen können.

Scharfschützen, die von Hubschraubern aus schossen

Über unseren Köpfen flogen zahlreiche Militärhubschrauber, auf ihrem Weg nach Rabia. Wie sich später herausstellte, wurden die Demonstranten auch von Scharfschützen von Hubschraubern aus erschossen.

Gegen 17 Uhr, elf Stunden nach Beginn der Räumung, meldete sich Sharif dann noch mal, er war dabei, Verletzte aus dem Feldkrankenhaus in andere umliegende Krankenhäuser zu transportieren.

Fünf Minuten später kam bei Facebook dann die Nachricht, Militär und Polizei hätten das Feldhospital angezündet, mitsamt Leichen und Verletzten. Verzweifelt versuchte ich Sharif anzurufen, aber sein Handy war aus.

Irgendwann – ich weiss nicht mehr, wie lange es dauerte. aber es war eine Ewigkeit – meldete er sich, es ginge ihm gut. Er war doch nicht in dem Feldhospital, sondern in einem anderen zum Rabia-Platz gehörenden Krankenhaus gewesen, und versuchte mit anderen, die Verletzten von dort aus zu evakuieren.

Zahllose Tote mit Einschüssen in Kopf oder Brust

Viele Stunden später, lange nach der Ausgangssperre, traf Sharif zuhause ein. Auf seinem T-Shirt war Blut zu sehen, nicht seines. Ich weiss noch, dass er – bevor es wieder hell wurde – hinaus auf den Parkplatz ging und das Auto wusch, von den Blutspuren reinigte, damit am nächsten Tag keiner «dumme» Fragen stellen würde.

Er erzählte mir von den vielen Getöteten und Verletzten, alle hauptsächlich mit Schusswunden im Kopf oder in der Brust, seltener im Bein. Er erzählte mir von Verletzten, die sich verzweifelt an ihn krallten und ihn baten, sie wegzubringen, oder Verwandte anzurufen.

Human Rights Watch hat 817 Fälle von getöteten Demonstranten dokumentieren können, die Dunkelziffer mag noch viel höher sein, da etliche Leichen verbrannt und somit nicht mehr identifiziert werden konnten. Bis heute gibt es Familien, die immer noch ein Familienmitglied vermissen.

Wir haben Ägypten verlassen

Drei Wochen später entschied ich mich, Ägypten zu verlassen. Das Massaker an sich war schon so furchtbar, aber was mich noch mehr schockierte und mich zu meiner Entscheidung brachte, war die Gleichgültigkeit von Nachbarn, Freunden und Verwandten. Wie sollte ich es länger neben diesen Menschen aushalten? Länger wollte und konnte ich dort nicht mehr bleiben. 

Es zerbrach mir das Herz, meine Kinder aus ihrem Umfeld und ihrem Freundeskreis zu reissen. Aber ein einigermassen «normales» Leben hätte ich dort nicht mehr führen können.

Mubaraks Rücktritt war für viele Ägypter ein Hoffnungsschimmer

Als im Februar 2011 Mubarak abdankte, schöpften viele Hoffnung. Besonders die jungen Menschen fühlten zum ersten Mal, dass sie ein wichtiger Teil der ägyptischen Gesellschaft sind und etwas bewirken können.

Mir war zum Heulen zumute, als ich die vielen Menschen damals sah, die anfingen, die Strassen zu säubern, ihre Stadtviertel schöner zu gestalten und zu begrünen.

Es boomte geradezu von Ideen und Projekten, um dieses so schöne, aber völlig verkommene Land wieder auf Vordermann zu bringen. Mit dem Militärputsch und vor allem seitdem Sisi sich nun offiziell Präsident Ägyptens nennt, sind all diese Hoffnungen begraben.

Viele Ägypter, die ich kenne, und die sich zuvor für eine bessere Zukunft Ägyptens engagierten, haben inzwischen das Land verlassen. Nachvollziehbar.

Wie soll es weitergehen in Ägypten?

Wie es weitergehen soll, weiss ich auch nicht. Aber angesichts der fortlaufenden Verhaftungen politischer Gegner, der Folter in den Gefängnissen, der miserablen Wirtschaft, des ständigen Wasser – und Stromausfalls, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der brodelnde Kern wieder und diesmal unaufhaltbar aus dem Inneren ausbricht.

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