Ein Küken kriecht aus der Eierschale

Antony Chen packt in 30 Sekunden Filmzeit, was andere in einem ganzen Film nicht schaffen: Er interessiert uns für einen bösen Jungen, öffnet uns einen spannenden sozialen Hintergrund und bringt eine Handlung in Fahrt, die längst nicht nur die Krise eines Kindes schildert, sondern die der ganzen Familie. Jiale kommt nicht über den Tod seines […]

Antony Chen packt in 30 Sekunden Filmzeit, was andere in einem ganzen Film nicht schaffen: Er interessiert uns für einen bösen Jungen, öffnet uns einen spannenden sozialen Hintergrund und bringt eine Handlung in Fahrt, die längst nicht nur die Krise eines Kindes schildert, sondern die der ganzen Familie.

Jiale kommt nicht über den Tod seines Grossvaters hinweg. Jiale prügelt sich, versetzt seine Mutter, übertölpelt den Lehrer und beschimpft seine Schulkollegen. Jürg Jegge nannte das Verhalten bei schwierigen Kindern einst «Rudern». Jiale durchlebt eine solche Krise. Er fühlt sich von seinen Eltern nicht geliebt.

Jiales Eltern stecken allerdings ebenso mitten in einer Krise: Die Mutter muss im Betrieb täglich Kündigungsschreiben aufsetzen, und der Vater ist selber Opfer von Kündigungen: Singapur versinkt im wirtschaftlichen Chaos. Ausserdem erwartet Jiales Mutter eine kleine Schwester.

Jetzt soll das philippinische Hausmädchen der Mutter beistehen. Doch Jiale mag die stille Gastarbeiterin nicht. Zwischen dem intelligenten Jungen und der sozial hellwachen Frau entspannt sich ein einseitiger Zermürbungskampf.

Im Hintergrund malen die Mühlen des Kapitalismus

Antony Chen erweist sich in seinem Filmerstling als ein risikofreudiger Erzähler. Nicht nur setzt er in der schwierigen Hauptrolle auf ein Kind. Er wagt auch einen konsequent poetischen Erzählstil. Er packt in dreissig Sekunden Filmzeit, was andere in einem ganzen Film nicht schaffen: Er interessiert uns für einen bösen Jungen, öffnet uns einen spannenden sozialen Hintergrund und bringt eine Handlung in Fahrt, die längst nicht nur die Krise eines Kindes schildert, sondern die der ganzen Familie.

Der folgende Spannungsbogen lässt uns dann auch bis zum Schluss nicht mehr los: Chen erzählt in stilsicheren Bildfolgen, wie der Junge sich aus der Krise kämpft: Es ist, als würde ein Küken durch ein schmerzhaftes Durchbrechen der Eierschale sich Luft verschaffen. Chen schildert auf mehreren Ebenen gleichzeitig den Überlebenskampf eines Jungen, der schliesslich ganz auf sich allein gestellt ist.

Die Familie als Auslaufmodell im Gewinnspiel

Dabei verbindet er die familiären Bildmotive im Vordergrund geschickt mit dem Hintergrund des ökonomischen Raubtierkapitalismus, der in Singapur Familien das Leben schwer macht. In einem einzigen Schnitt verbindet Chen das Bild der gehätschelten Kuschelküken (die der Junge als Haustier auf dem Balkon hält) mit dem gebratenen Hühnerschenkel, der zwischen den Zähnen zerbissen wird.

In der kleinen Nebengeschichte mit den Küken erzählt er aber auch die Reifung des Jungen. Als er das letzte seiner Haustiere gerne am Leben erhalten würde, fängt er an, sich selber darum zu kümmern.

Stiller, leiser Humor

Chen braucht seine Figuren nur selten aussprechen zu lassen, was die Handlung vorantreibt: Wir werden Zeugen, wie der Junge das Kindermädchen betrügt, wie der Vater die Mutter belügt, wie das Mädchen sich schwarz verkauft. Chen schafft es derart unaufwendig, die soziale Not zu schildern, dass wir manchmal fast vergessen über die Selbstverständlichkeit empört zu sein, mit der die Rechte der Wanderarbeiterin mit den Füssen getreten werden.

«Ilo Ilo» ist aber auch eine ganz leise, humorvolle Erzählung. Was der Autor ins Jahr 1997 verlegt, ist letztlich der Prozess, dem Singapur noch heute ausgesetzt ist: Der Übergang in eine erbarmungslos erfolgsorientierte Wertegesellschaft. Am Ende fängt der Film wieder von vorne an. Mit der nächsten Geschichte. Jetzt ist das kleine Schwesterlein geboren. Ein weiteres Küken, um das sich jemand kümmern sollte.

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«Ilo Ilo» läuft u.a. in Basel im kult.kino Camera.

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