Ein Minus, das fast alle freut

Die Schweiz ist das einzige Land in Europa mit negativer Jahresteuerung. Der Spass wird von kurzer Dauer sein.

Kostentreiber: Erdölprodukte wie Benzin, Diesel und Heizöl haben den grössten Einfluss auf die Preisentwicklung. (Bild: Joerg Sarbach)

Die Schweiz ist das einzige Land in Europa mit negativer Jahresteuerung. Der Spass wird von kurzer Dauer sein.

Wie immer im Januar wird dieser Tage die jährliche Teuerungs­rate bekanntgegeben. Bleibt es bei der Prognose des Bundesamtes für Statistik (BFS) vom Dezember, wird sie bei minus 0,7 Prozent liegen. Damit wäre die Teuerung in der Schweiz seit 14 Monaten rückläufig. Die Jahresteuerung ist der wichtigste Indikator für die Beurteilung der Geldwertstabilität (Inflationsrate). Sie wird aber auch in Miet- und Pachtverträgen verwendet, um die Kosten der Teuerung anzupassen. Doch wie wird diese Rate eigentlich ermittelt?

Was drin ist im Korb
Nur wenige Artikel wurden von der Einführung des Index im Jahr 1922 bis heute im Warenkorb verfolgt. Dazu gehören Ruchbrot, Milch, Zucker, Kartoffeln oder Eier. Sportschuhe werden seit 1966 erfasst. 1993 wurde der Personalcomputer aufgenommen, zudem Gartenwerkzeuge, die Miete von Parkplätzen und der Bezug von Fernwärme. Bei der grossen Revision im Jahr 2005 flog einiges aus dem Korb, was über Jahrzehnte zum normalen Verbrauch gehörte: Rosenkohl, Tapeten, VHS-Videorecorder, Sofortbildkameras oder Friteusen. 2010 wurde Fritieröl aus dem Warenkorb gestrichen. Dafür kamen zum Beispiel Rapsöl, Antipasti, Elektrofahrräder, die Haushaltshilfe der Spitex und spiegellose Systemkameras neu hinein.

Das BFS erstellt dafür den Landesindex der Konsumentenpreise anhand eines «Warenkorbes» mit den 50 000 Artikeln, die in der Schweiz am häufigsten nachgefragt werden. Dazu gehören Lebensmittel, Kleidung, Postdienste, Pauschalreisen, Energie sowie viele andere Güter und Dienstleistungen. Dafür werden an den immer gleichen Stellen die Preise der immer gleichen Artikel erhoben.

Tablet statt Klemmbrett

Das klingt einfacher, als es ist. Bei Kleidern etwa darf nur Wollpulli mit Wollpulli verglichen werden. Ist dem Pullover einer bestimmten Marke plötzlich ein Polyester-Anteil beigemischt, muss im selben Laden ein gleichwertiger reinwollener Ersatz gesucht werden.

Seit wenigen Jahren erhebt das BFS einen Teil der Preise flächen­deckend mithilfe der Scannerdaten von Migros, Coop, Manor und Volg. Bis vor einem Jahr wurden die übrigen Preise noch monatlich per Klemmbrett und Bleistift von gut 40 Preiserheberinnen direkt vor Ort in den Läden notiert. Dann stellte man auch im BFS auf die Moderne um. Seitdem kommen Tablets zum Einsatz. Was nicht für alle eine Erleichterung war. Reto Müller, Produktionsleiter Landesindex der Konsumenten-preise (LIK) im BFS: «Nicht wenige der Preiserheberinnen klagten plötzlich über Muskelkater, nachdem sie fünf Stunden lang mit dem Tablet durch den Laden gegangen waren.»

Was genau in den Warenkorb hineinkommt und wie es gewichtet wird, bestimmt eine Stichprobenerhebung. Pro Jahr werden 3000 Haushalte nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Diese führen einen Monat lang ein detailliertes Haushaltsbuch mit sämtlichen Ausgaben.

Bei der Einführung des Warenkorbes 1922 machten Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke 57 Prozent des Haushaltsbudgets aus. 2012 waren es nur noch 10 Prozent. Grösster Posten im aktuellen Warenkorb ist «Wohnen und Energie» mit einem Anteil von 26 Prozent. Den grössten Einfluss auf die Preisentwicklung haben die Erdölprodukte. Die Preise werden in elf Regionen erhoben. Die Zürcher Preise werden im Index mit 20,4 Prozent am stärksten gewichtet. Es folgen Bern mit 14,8 Prozent und Basel mit 14,4 Prozent.

Steigende Preise registrieren wir stärker als Preissenkungen.

Die Teuerung des Basler Index der Konsumentenpreise (BIK) war seit November 2011 durchgehend rückläufig. Das letzte Mal konnte eine solche Entwicklung in Basel 1959 beobachtet werden, die aber nur neun Monate anhielt. Kuno Bucher vom Statistischen Amt Basel-Stadt erklärt: «Die negative Teuerungsrate verdanken wir der Frankenstärke. So sind beispielsweise die Autopreise beträchtlich gesunken.» Dazu kommt die neue Konkurrenz durch die Grossverteiler aus dem Ausland und der technische Fortschritt bei der Unterhaltungselektronik.

Wenn trotzdem der eine oder andere das Gefühl hat, es werde alles ­teurer, so liegt das gemäss Bucher an der «wahrgenommenen Inflation»: «Konsumenten registrieren Preissteigerungen stärker als Preissenkungen. Der Preisaufschlag an der Tankstelle bleibt im Gedächtnis haften – nicht aber die Tatsache, dass Technikprodukte wie Fernseher oder PCs im Vergleich zu früher massiv günstiger geworden sind.»

Die Schweiz als Ausnahme

LIK-Produktionsleiter Reto Müller betont: «In Europa ist die Schweiz das einzige Land mit negativer durchschnittlicher Jahresteuerung. Der Schnitt in der Eurozone wird voraussichtlich bei einem Plus von etwa 2,5 Prozent liegen.»

Für 2013 und 2014 erwartet das BFS bereits wieder einen Anstieg auf je +0,2 Prozent. «Die Preissenkungen kamen vorrangig in der zweiten Hälfte 2011 zustande. 2012 war dagegen recht konstant», erklärt Müller. «Da für die Berechnung der durchschnittlichen Jahresteuerung zwei Jahresmittel verglichen werden, führte dies 2012 zu einem negativen Wert. Das dürfte sich aber bereits 2013 wieder ändern.»

Preistreiber sind zurzeit zum Beispiel Benzin und Diesel sowie einige administrierte Preise, die der Staat festlegt oder bewilligt, etwa Gas, Fernwärme, Zigaretten, Bildung oder der öffentliche Verkehr. Kurz: Das Minus vor der Zahl wird 2013 schnell verschwunden sein.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.01.13

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