Ein nicht ganz jugendfreies «Schneewittchen»

Mit einer opulenten Bilderflut inszeniert Altmeister Achim Freyer am Theater Basel Heinz Holligers Oper «Schneewittchen». Ein frischer, berauschender Theaterabend mit betörend atonalen Klangschichtungen.

(Bild: Monika Rittershaus)

Mit einer opulenten Bilderflut inszeniert Altmeister Achim Freyer am Theater Basel Heinz Holligers Oper «Schneewittchen». Ein frischer, berauschender Theaterabend mit betörend atonalen Klangschichtungen.

Märchen stehen in Kindertagen nicht selten für eine heile, heimelige Welt – vielleicht, weil sich die Geborgenheit der Vorlesesituation auf Mamas oder Papas warmem Schoss nicht trennen lässt von den Geschichten, die so oft in finsteren, dunklen Wäldern spielen; vielleicht aber auch, weil sich die komplexe Realität im Märchen recht einfach in gut und böse teilt und damit den Heranwachsenden die so dringend benötigte Orientierung gibt.

Dass die Einteilung in gut und böse nicht so einfach ist, und dass die mitunter gnadenlose Brutalität in Grimms Märchen von zahlreichen psychologischen Subtexten begleitet wird, das zeigt sich in manch pointierter Nachdichtung. Auch in jener von Robert Walser, die dem Libretto von Heinz Holligers Oper «Schneewittchen» zu Grunde liegt.

Walsers Text kreist um die Schuldfrage

Walsers gleichnamiges Dramolett von 1901 kreiert zum Grimm’schen Märchen einen Nachsatz, setzt dort ein, wo das Märchen endet. Alle Figuren sind beisammen und kreisen um die Schuldfrage. Walser versucht, die Motivation der Märchenhandlungen aufzudecken, indem er alle Anschuldigungen in ihr Gegenteil verkehrt. Schneewittchen verantwortet den Hass der Königin, der Prinz wird Schneewittchen trotz endloser Liebesschwüre mit der Königin untreu, der Jäger will seinen im Märchen vereitelten Mord an Schneewittchen im Spiel noch einmal richtig machen. Alle lügen, alle sagen die Wahrheit.

Dass sich der Schweizer Komponist Heinz Holliger (75) diesem Stoff annahm, ist einem Kompositionsauftrag der Oper Zürich zu verdanken. 1998 feierte «Schneewittchen» in Zürich eine umjubelte Uraufführung; dennoch ist erst jetzt dank des Engagements des Theater Basels eine zweite Inszenierung dieser so klangschönen, atmosphärischen Oper zu erleben.

Wie schon vor 16 Jahren in Zürich steht auch diesmal der Komponist höchstpersönlich am Dirigentenpult und führt das Sinfonieorchester Basel mit schnörkellosen, fast zackigen Bewegungen durch die vertrackte Partitur. Hinreissend, wie in der Eröffnung das zarte Glitzern des Schnees vertont ist, wie sich die Klangschichtungen in sanft schwebenden Rhythmen langsam aufbäumen, wie es zu wilden musikalischen Kämpfen mit starken Kontrasten in den Klangfarben kommt, und wie sich alles in einem sanften Bogen schliesst.

Freyer hat übervolle Standbilder geschaffen  

Holligers Komposition ist nah am Text, lässt das eigenartige Kreisen um die immergleiche Schuldfrage auch musikalisch nachvollziehen. Die Inszenierung hingegen wählt ein eigenes Zeitmass. Achim Freyer (79) hat sieben übervolle Standbilder erschaffen, bewegte Stillleben, in denen gewuselt und gymnastiziert, geschaukelt und geliebt, geschlachtet und geblutet wird – nur eines nicht: agiert. Freyer ist von Haus aus Maler, und dass er in Bildern denkt – und nicht in darzustellenden Handlungen – spürt man in jedem Augenblick. 

Für die Sänger mag es von Vorteil sein, dass sie in ihren höchst anspruchsvollen Partien nur einen minimalen Radius zu bespielen haben. Doch da sie ihre Rollen kaum durch schauspielerische Elemente charakterisieren können, ist die musikalische Fokussierung auf die Eigenheit jeder Figur umso bedeutender – was hier gelungen ist: Anu Komsi schenkt dem Schneewittchen ihren klaren, mitunter eiskalt fröstelnden Sopran, der in den zahlreichen Dialogen mit dem kräftig warmen und sonoren Mezzosopran der Königin (Maria Riccarda Wesseling) auch mal keifen kann; Mark Milhofer als Prinz nimmt seine zappelige Nervosität auch musikalisch auf, und Christopher Bolduc gibt sich als Jäger auch stimmlich kämpferisch.

Phantastischer Reichtum an Ideen

Die Bilder, die Regisseur Freyer kreiert, stehen dem musikalischen Spektakel an phantastischem Reichtum in nichts nach. Sanft fallende bis stürmisch tobende Schneeflocken hüllen per Videoprojektion den gesamten Bühnenraum ein, surrealistische Formen und grellbunte Farben in Bühne und Kostüm (Amanda Freyer, Tochter des Regisseurs) treten zum klar weissen Schnee in Kontrast.

Und auch wenn das Kindliche hier mit den puppenartigen Kostümen und den kostümierten Puppen, die in allen nur denkbaren Farbkombinationen den Bühnen-, Orchester- und Zuschauerraum bevölkern, angesprochen wird, so ist diese Produktion doch erst «ab 16 Jahren» empfohlen. Liegt es an der psychedelischen Musik? An dem zappelnden Prinzen, der permanent an seinen drei Joints zieht? An der vier Meter grossen Königin, die im blutroten Kleid allerlei Eingeweide verschlingt und mit eigenartig auswuchernden Brüsten den Jäger zum Geschlechtsakt verführt? Oder den stumm bleibenden sieben Zwergen mit ihren übergrossen, abartig verformten Penissen? 

Sexuelle Konnotationen

«Dem Publikum wird es während der zwei Stunden keine Sekunde langweilig sein», sagte 1998 Regisseur Reto Nickler anlässlich der Uraufführung in Zürich. Dies gilt auch für die Basler Inszenierung. Den Beziehungsreichtum in der Musik und die überbordende Phantasie in der Bildsprache gänzlich zu erfassen, wird auch nach mehrmaligem Anschauen kaum möglich sein. Eine sinnlich verspielte, in den Tiefen der menschlichen Psyche wühlende Oper, die es nun hoffentlich ins Repertoire schafft. Die dafür verantwortlichen (Festspiel-)Intendanten waren jedenfalls zahlreich im wohlwollend applaudierenden Premierenpublikum vertreten.


Schneewittchen. Oper von Heinz Holliger. Theater Basel, Grosse Bühne.
Weitere Vorstellungen: 22. 2. bis 15.4.

 

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