TagesWoche-Leserin Ruth Irène Graf hat der Weihnachtsgeschichte von Luzius Lenherr ihren eigenen Schluss verpasst.
Luzius Lenherrs Weihnachtsgeschichte hatte verschiedene Varianten für den Ausgang. Ruth Irène Grafs Schluss geht von der Variante aus, dass Josef den Schlüssel zum Briefkasten hat und Marias Karte angekommen ist:
Josef öffnet den Briefkasten; der grüne Leguan blitzt ihm zwischen «Tages Woche», «Coop-Zeitung» und Media-Markt-Reklame entgegen. Wider Erwarten klopft sein Herz plötzlich rascher. «Was ist, wenn sie mir ihre grosse Liebe gesteht und einen Heiratsantrag macht? Oder, auch schlimm, wenn sie von ihrer Unsicherheit erzählt oder gar einen andern mehr liebt als mich?»
Der Herzschlag scheint sich zu verdoppeln, denn beide Möglichkeiten wären katastrophal und vor allem sehr schmerzhaft! Zögernd zieht Josef das grüne, glänzende Ding zwischen dem Papierstapel hervor. Da er bei der vorweihnachtlichen Kälte Handschuhe trägt, entgleitet ihm alles und die Karte landet im Matsch, natürlich mit der Schrift nach unten!
Der Leguan blickt ihm starr entgegen, scheint ihn zu hypnotisieren. Josef zieht seinen rechten Handschuh aus (er braucht jetzt seine Fingernägel) und hebt das widerspenstige Stück Karton vom Boden auf. Natürlich hat sich die Tinte schon ein wenig aufgelöst, so liest Josef das kleine «PS». Zuerst: täusche, schwanger. Jetzt schlägt sein Herz bis zum Hals.
«Habe ich mich getäuscht?» denkt er und liest nochmals, jetzt auch den oberen Teil. Die verschwommene Tintenschrift wird zusehends unleserlich, denn nun tropfen noch seine Tränen darauf. Tränen der Rührung, eigentlich über sich selbst: «Ich bekomme ein Kind; mein eigenes Fleisch und Blut wird weiterleben!» Tränen der Reue und Scham: «Ich habe ihr einen Korb gegeben, gesagt, ich liebe sie zu wenig!» Tränen der Verzweiflung und des Zorns: «Was soll ich nur machen? Kann ich sie so verlassen? Will ich dies überhaupt noch? Aber wenn ich meiner inneren Stimme folge, muss ich es!»
Sie hatten geplant am Heiligabend sich zu treffen und alleine, ohne Herkunftsfamilien, auf ihre Art zu feiern; vielleicht mit einem Nachtspaziergang durchs Quartier; mit Stehen-Bleiben vor heimelig geschmückten und beleuchteten Fenstern; mit einem Halt in einer Bar…
Am 24. Dezember schaut Josef bange dem Abend entgegen. Er hat ein einfaches Nachtessen vorbereitet. Raclette. Da hat man genügend Zeit, um miteinander zu sprechen. Der spröde Leguan mit dem starren Blick lehnt an einem Kerzenständer und schaut bedrohlich über den Tisch hinweg. Ein Weihnachtsgeschenk in Sternenpapier eingeschlagen liegt auf Marias Teller (es ist ein kuscheliges Rosa-Schwein, das zugleich eine Wärmeflasche enthält). «Wie passend ist das überhaupt noch als Abschiedsgeschenk oder als Geschenk für eine Schwangere?» denkt Josef.
Jetzt sitzen sie sich gegenüber: Maria und Josef. Beide haben rote Wangen (nicht vom Raclette-Oefeli), sind befangen, wie sonst nie. Die Kartoffeln sind trocken und bleiben im Hals stecken. Der Käse zieht Fäden, scheint das «Halszäpfli» zu umwickeln.
Maria ist mutig. Nach einem tüchtigen Schluck Rotwein schöpft sie tief Atem und sagt wie aus der Kanone geschossen: «Du weisst, ich bin schwanger—ich will das Kind haben—aber ich will nicht heiraten—ich bin zu unsicher—ich liebe meine Arbeit und meine Selbständigkeit—meine Liebe zu Dir reicht nicht—mein Herz gehört jemand anderem—ich wollte es dir schon vor unserem gemeinsamen Urlaub sagen—hatte den Mut nicht: Meine Liebe gehört Rita—wir werden das Kind gemeinsam aufziehen!!»
Der spröde, geschuppte Leguan betrachtet beide mit einem Blick, der aus der Steinzeit zu kommen scheint und mit der Frage in den Augen: «Ja, und was geschieht dann mit mir?»