Faszinierend, aufwühlend, sinnlich: All das ist «El abrazo de la serpiente», ein historischer Film, der am Amazonasbecken spielt. Im Zentrum stehen für einmal nicht die weissen Forscher: Die Hauptperson ist ein indigener Schamane.
Lebenswelten prallen aufeinander: Der Schamane Karamakate (alt) mit dem US-amerikanischen Wissenschaftler Richard Evan Schultes, gespielt von Antonio Bolívar und Brionne Davis.
Der Ethnologe Theodor von Martius (gespielt von Jan Bijvoet) mit Bewohnern des Amazonas.
Der junge Karamakate, gespielt von Nilbio Torres.
Die lange Reise auf dem unberechenbaren Amazonas-Fluss führt zu keinem Ziel...
...die Reisegruppe ist den unberechenbaren Wassergewalten ausgesetzt.
«El abrazo de la serpiente» lautet der Titel dieses Films, auf Deutsch der Kuss oder auch die Umarmung der Schlange. Es ist ein gewaltiges Bild. Und ein passendes: Furchteinflössend und atemberaubend schlingt sich der Amazonas – eine riesige Schlange aus Wasser – um unsere gesamte Aufmerksamkeit, saugt uns tief hinein. Als wir nach zwei Stunden Umarmung wieder ausgespuckt und in die grelle Realität entlassen werden, sind wir zwar fast etwas benommen, aber um ein filmisches Erlebnis reicher, das seinesgleichen sucht.
Der Film handelt von zwei Forschern, die ins Innerste des Amazonas vordringen und – mit 30 Jahren zeitlichen Abstands – vom gleichen Schamanen auf ihrer Suche nach derselben Wunderpflanze begleitet werden: Der deutsche Ethnologe Theodor Koch-Grünberg im Jahr 1909, der US-amerikanische Botaniker und Abenteurer Richard Evan Schultes im Jahr 1940. Der Film basiert streckenweise auf Originalauszügen ihrer Tagebücher.
Der Amazonas – eine grosse Unbekannte
Der aufstrebende kolumbianische Regisseur Ciro Guerra startete das Filmprojekt aus persönlichem Interesse, er wollte das Amazonasgebiet kennenlernen, das die Hälfte seines Landes bedeckt und doch eine Unbekannte war. Sein Land habe dem Urwald, seinem Wissen und der dort verankerten Weltsicht zu lange den Rücken gekehrt und würde all dies unterschätzen, schreibt er in einem Statement.
Wenn man sich über den Amazonas informieren wolle, stosse man meistens auf Berichte von europäischen oder nordamerikanischen Forschern. Er wollte deren Begegnungen mit den Bewohnern des Regenwalds nacherzählen. Im Zentrum der Handlung stehen nicht die beiden weissen Forscher, sondern der Schamane Karamakate. Der Regisseur wollte durch den Film dem Amazonas seine Stimme zurückgeben. So schreibt er im Statement: «Die Forscher haben ihre Geschichten erzählt. Die Einheimischen nicht.» Dabei zwängt er Karamakate nicht in ein folkloristisches Pocahontas-Korsett; der indigene Hauptdarsteller – gespielt von einem Laienschauspieler – wirkt authentisch und zeitlos.
Wahnsinn und Weisheit liegen nahe beieinander
Der Spielfilm wirft ein schonungsloses Schlaglicht auf die ausbeuterischen Tätigkeiten europäischer Kolonialherren und Geschäftsleute zu jener Zeit: Der indigene Genozid am Amazonasbecken war einer der schlimmsten der Geschichte, er sollte die wirtschaftliche Ausbeutung der Region ermöglichen – in frühen Jahren nach Kräutern und Gewürzen, später nach Kautschuk. Die miserablen Bedingungen, unter denen die für den Kautschukgewinn versklavten Menschen auf den Plantagen arbeiteten, lassen einen im Kinosaal erschaudern.
Die lückenhaften Berichte weisser Forscher sind von vielen indigenen Amazonasstämmen das einzige verbleibende Zeugnis. Wie dreht man einen Film über ein Thema, das so schlecht erschlossen ist? Ciro Guerras filmische Antwort lautet: Mit Mut zu Leere, zu fehlenden Details. Was wann passiert, scheint in diesem bildgewaltigen Werk zweitrangig. Die Handlungsstränge fransen aus, überlappen sich, lassen sich kaum bis zu einem klassischen Ende verfolgen. Der deutsche Ethnologe Theodor Koch-Grünberg schreibt in einem Tagebuchauszug: «Ich kann nicht wissen, mein verehrter Leser, ob der unermessliche Regenwald in mir schon den Prozess ausgelöst hat, der so viele andere, die sich so weit vorgewagt haben, in den unheilbaren Wahnsinn getrieben hat.»
Genau dieses Gefühl, dass alles möglich und nichts eindeutig ist, bringt der Film auf beeindruckende Weise rüber: Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, zwischen Weisheit und Wahnsinn verschwimmen. So kann auf realitätstreue Szenen oder Tagebuchauszüge schon einmal ein kannibalisches Blutbad folgen, das den übelsten Albträumen zu entspringen scheint. Und dann ist da immer wieder diese überwältigende Natur, in wunderschönem Schwarz-Weiss-Schattenspiel von der Kamera eingefangen, die alles andere klein und irgendwie nebensächlich erscheinen lässt.
Oscar-Nominierung als bester ausländischer Film
Die geringe Wertschätzung indigener Lebensformen und Rassismus sind Themen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert weltweit leider kaum an Aktualität eingebüsst haben – insbesondere im gegenwärtigen Kolumbien. Es überrascht kaum, dass «El abrazo de la serpiente» für den Oscar als bester ausländischer Film nominiert wurde: Ciro Guerra gelang ein filmisches Gesamtkunstwerk, das auf sinnliche Weise betört und gleichzeitig mit brisanten, durchaus politischen Fragen zum Nachdenken anregt.
Die Hauptperson Karamakate – ein Schamane von unermesslichem Wissen und grosser Weisheit – ist eine Hommage an all die verlorenen Leben und Kulturen im Amazonas. Man mag sich kaum vorstellen, wie das Amazonasgebiet heute pulsieren und leben würde, hätten die vielen Morde, Diebstähle und Einmischungen nicht stattgefunden. Ciro Guerra schreibt als Widmung am Ende des Films: «Dieser Film ist für all diejenigen, deren Lieder wir niemals hören werden.»
Der Spielfilm «El abrazo de la serpiente» läuft ab dem 28. Januar 2016 in den Deutschschweizer Kinos. Im Kino ist Kolumbien zurzeit sehr präsent: Der Dokumentarfilm «La Buena Vida» läuft ebenfalls am 28. Januar an und erzählt von der Zwangsvertreibung eines Wayúu-Stamms aus dem kolumbianischen Regenwald durch einen Kohlebergbau.