In Venedig hat er 2014 den Goldenen Löwen erhalten. Was er filmt, ist voller humoristischer Verzweiflung. Er klagt ohne jede politische Schuldzuweisung an. Oft hat er für seine eigenen Bilder selbst keine Erklärung. Ausser einem Lachen.
«Wenn ihr die Politik des Alltags filmt, wir man euch später keine Filme machen lassen!» Diese Warnung des Schulinspektors Ingmar Bergman hat der Student der Filmkunst Roy Andersson sich in den Tagen des Vietnamkrieges zu Herzen genommen. Befolgt hat er sie nicht.
In Venedig hat er 2014 den Goldenen Löwen erhalten. Was er filmt, ist voller humoristischer Verzweiflung. Er klagt ohne jede politische Schuldzuweisung an. Oft hat er für seine eigenen Bilder selbst keine Erklärung. Ausser einem Lachen.
39 Bilder der Verzweiflung
39 Bilder enthält Roy Anderssons neuestes Werk, das in Venedig seine Weltpremière feierte. «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence». Die drei ersten Bilder überschreibt er mit: «Rendez-Vous mit dem Tod». Ein Mann stirbt an Überanstrengung beim Entkorken einer Weinflasche.
Eine Mutter besteht im Sterbebett darauf, ihre Handtasche mit in den Himmel nehmen zu wollen. Unberührt bleibt das Essen, das neben dem überstürzt verstorbenen Reisende auf dem Tablett im Selbstbedienungsrestaurant stehen bleibt. Nur für das Bier findet sich einen Abnehmer bei den Umstehenden.
Auch die weiteren Bilder enthalten himmeltraurig humorige Geschichten. Andersson malt sie mit dem abgründigen Witz von Otto Dix, mit der hintergründigen Anklage des Francisco Goya, und füllt sie mit der verzweifelten Komik Becketts.
Erst im letzen Bild hört man die Taube gurren, von der im Titel die Rede ist. Zuvor hat man sie zu Beginn einmal gesehen: Ausgestopft, im Museum, wartet ein Museumsgänger darauf, das sie sich regt, während wir gespannt sind, ob er sich regt.
Bild-Geschichten und das grosse Fresko
Es sind lauter kleine Kurzfilme von kleinen Verzweiflungen, in je einer Einstellung, die
Andersson beherrscht, wie keiner. Kein Wunder also, dass er, wie Fellini, im Verdacht steht, immer denselben Film zu drehen, hat er doch eine einzigartige Sprache erfunden. Tatsächlich ist Variation seine Lieblings-Methode. Er stösst immer wieder auf ähnliche Verzweiflungen im Leben.
Im fünfzehnten Bild lässt er ein kleines Mädchen das Gedicht von der Taube aufsagen. Unter grosser Anteilnahme seines Lehrers, erzählt das Kind auf der Schultheaterbühne, worum es in dem Gedicht geht: «Es sitzt eine Taube auf dem Ast. Sie denkt über das Leben nach. Aber sie hat kein Geld, um das zu bezahlen». Unter verständnislosem Applaus der Schultheatergemeinde tappst das Kind wieder von der Bühne.
In «Songs from the second Floor» liess Andersson das Mädchen noch mit verbundenen Augen unter der liebevollen Ermutigen der Lehrerin von einer Klippe stürzen. «Gut machst du das!». Anderssons Annäherung an seine Figuren ist die abgrundtief komische Verzweiflung.
Der Glaube, die Hoffnung, die Liebe des Menschen.
Wenn die Mutter auf dem Sterbebett ihre Handtasche nicht loslassen will, ist ihr Wille stärker als ihr Glaube. Wenn der Sohn beim Gedanken, er möchte seine Jugendgeliebte wiedersehen, wenn es sein muss im Himmel, um ewig in Liebe mit ihr zusammen zu sein, entsetzt ihn dennoch der Gedanke, dass er dann auch ewig mit seinen Eltern im Himmel zusammen sein müsste.
Die Hoffnung der Menschen ist voller unwiderstehlicher Geschäftsideen. In «Songs from the second Floor» wird der Vertrieb von Jesus-Kreuzen im grossen Stil aufgezogen. Immerhin handelt es sich um die berühmteste Persönlichkeit der Welt, nach Elvis Presley! In «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» ist die Geschäftidee ebenso bestechend: Scherzartikel!
Die Menschen wollen fröhlich sein! Sie wollen Lachsäcke, Vampirzähne und Gummimasken! Also lässt Andersson zwei himmeltraurige Scherzartikel-Verkäufer bei allen möglichen Gelegenheiten ihren Vertreterkoffer öffnen. Er ist dabei nie um eine liebevoll rabenschwarze Lösung verlegen. Je tiefer sich bei Andersson die Abgründe öffnen, desto feiner malt er sie uns aus wie, Breughel oder Rembrandt.
Unbezweifelt ist nur die Verzweiflung
Andersson entwickelt einen unbändigen Sinn für das Rätsel des Lebens in seinen Bildern. Scheinbar im Stillstand, enthalten sie dennoch viel Bewegung. Wie Breughel oder Dix arbeitet Andersson mit grosser Klarheit. «Es ist eine Art Sachlichkeit», sagt er im Gespräch. Seine Bilder sind voller Brutalität des Lebens, und strahlen dennoch die Frommheit einer Pietà aus.
Dabei ist er als Bilder-Erfinder ein erbarmungsloser Anachronist und Chronist in einem. In einem einzigen Bild fasst er mehrere geschichtliche Ungeheuerlichkeit zusammen: Inspiriert vom sizilianischen Bullen, einem Folterinstrument der Inquisition aus dem 6. Jahrhundert, baut er eine riesige metallen Trommel, in die er Kolonialisten gestrandete Afrikaner hineintreiben lässt.
Unter den Eingesperrten lässt er nun (wie im 6. Jahrhundert unter dem metallenen Bullen) ein Feuer entfachen, bis die Trommel sich dreht, wie eine riesige Edison-Walze, weil die Menschen im Innern, wohl rennend, der Hitze der Brennkammer entkommen wollen, wie Hamster, während aus den Metalltrichtern die Wehgesänge der derart Gefolterten zu uns hinaus dringen. Eine irrwitzig schöne Musik, die von Arvo Päärt stammen könnte.
Tatsächlich tritt denn auch im folgenden Bild, gegenüber, eine Versammlung von Klangliebhabern auf die Opernterrasse hinaus, nippt an Champagnergläsern, und lauscht den schmerzvollen Gesängen.
Es sind derartige Zivilisationsbilder, mit denen uns Andersson an unsere Verständnisgrenzen stösst. Derart konkret in Bildern zusammengefasst, ist die Welt und ihr Schmerz Nahe am Unerträglichen.
Der Raumkünstler der Renaissance-Renaissance
Vier Jahre lang arbeitete der Schwede mit seinem Team im Studio an seinen Raumkunst-Installationen für «A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence». Dabei entwarf und baute er Räume, von denen jeder ein komplettes Bühnenbild enthält. Seine Methode ist einfach wie aufwändig: Als wollte er eine ganze Theateraufführung in ein Bild fassen, lässt er in jedem Bild eine kleine Geschichte vor uns, und in uns, entstehen.
Andersson lässt seine Figuren in haarsträubende Situationen festgefahren wirken. Dennoch sind seine Bilder sehr kommunikativ: Sie fordern uns auf, auf optische Entdeckungsreisen zu gehen: Je nachdem, in welcher Reihenfolge man die Details seine Bilder entziffert, entstehen die Geschichten für jeden Zuschauer individuell. Andersson malt seine Filme wie die Renaissance ihre Fresken.
Ausgerechnete er, der das Erzählkino nicht mag, ist ein begnadeter Geschichtenkonstrukteur. Darin folgt er zwar der Renaissancemalerei mehr, als dem narrativen Kino. Damit schafft er es aber auch, immer mehrere Erzählstränge am Laufen zu halten: Wie in Renaissance-Bildern steckt hinter jeder Tür eine weitere Welt, in der es Dinge zu entdecken gibt. Wer seine Bilder lang genug betrachtet, wird die Geschichten selber entdecken – und ganz für sich allein.
Die inneren Verbindungen der Einzelteile
Zwar scheint die hinreissend temperamentvolle Flamencotänzerin, die ihren Lieblingstänzer immer wieder kontaktfreudig betatscht hat, im folgenden Bild schon vergessen. Da steht nämlich ein Schiffskapitän auf der Strasse und telefoniert. Er vermutet, er habe sich wohl in Uhrzeit und Tag geirrt, da im Restaurant niemand auf ihn warte. Doch währen er spricht, fällt im Hintergrund, im Fenster des Restaurants sichtbar, der Tänzer auf, samt der uns bekannten Flamenco-Tänzerin, die er nun weinend sitzen lässt.
Er verbindet die kleinen Katastrophen des Alltags mit der grossen der Existenz. Andersson arbeitet mit weitergehenden Bezügen. Seine Filme kommunizieren denn auch mit jedem Publikum, aber auf unterschiedlichen Ebenen. Zuschauer, die nur schauen wollen, werden bei ihm nicht glücklich. Andersson ballert nicht mit lauter lauten Bildern auf uns ein. Er lässt Betrachter ganz leise seine Räume entdecken. Nur wer lange hinschaut, wird bei ihm anfangen etwas zu sehen.
Ausgangspunkt ist aber nicht nur das Bild
Erst, sagt Andersson im Gespräch, war das Bild. Das Wort kam danach. Zum Bild gehört bei Andersson auch immer die Musik, oder die Melodie die im Bild steckt. Im Bild «1943» lässt er in einer schwedischen Kneipe lange darüber räsonieren, ob jemand noch etwas trinken wolle. Doch beklagt man sich in der Männerschaft, man habe ja kein Geld zu bezahlen.
Da fängt die Wirtin an zu singen: «Wer nicht bezahlen kann, kann nicht trinken». Doch das Trinklied geht weiter, wie es in Schweden noch heute gesungen wird: «Wer nicht mit Geld bezahlen kann, der tut es mit Küssen » – dann gibt ein jeder der Männer sein Trinkgeld.
Auch wenn Roy Andersson dem Bild verpflichtet ist, ist er dennoch unter den schwedischen Filmern der Poet des Wortes. Aber er wendet das Wort auf den Alltag einfacher schwedischer Menschen an: Er schaut den Leuten auf die Finger, nicht auf die Lippen:
«Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht»
«Va roligt att höra, att ni har det bra». Es einer der Leitsätze, die durch das 39-Bilder Album führen: «Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht» könnte auch der Titel sein, der nun aber lautet «Eine Taube sass auf einem Ast und dachte über die Existenz nach».
Roy Andersson schafft es, in einem einzigen Satz eine ganze Welt zusammenzufassen: «Die Menschen sind meist glücklicher, wenn sie hören, dass andere glücklich sind, als wenn sie es selber sind», sagt er dazu. «Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht» taucht gleich mehrfach auf:
Ein ehemaliger Kapitän sagt den Satz, während in dessen Hand eine Pistole baumelt, und er die andere Hand mit einem Telefon an seinen Kopf hält. «Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht» Andersson hält Augenblicke fest, bis sie unwiderstehlich werden. So etwa, wenn die Assistentin im Tierversuchs-Labor, während neben ihr ein verdrahteter Affe sich windet, von Stromwellen gepeinigt, ins Telefon sagt: «Wie schön zu hören, dass es Euch gut geht». Sie wiederholt es noch einmal, aber noch liebevoller, weil sie wegen des Affengeschreis schlecht verstanden worden sein mag.
Der ins Detail vernarrte Narr
Andersson hat in den Neunzigern jahrelang an seinem ersten langen Film gearbeitet. Er hat, neben Werbefilmchen und Auftragsarbeiten, Stück um Stück des ersten Teils seiner Trilogie gebaut: Jetzt liefert er mit der «Taube» den dritten Teil. «Ich habe nicht eine Trilogie geplant. Aber mein nächster Film ist der vierte Teil dieser Trilogie». Er sagt das verschmitzt. Denn eigentlich ist Andersson ein unendlich verspielter Humorist. So erbarmungslos wie Otto Dix. So verträumt wie Edward Hopper.
Auch sein neuestes Panoptikum der Endzeit spielt, wie immer, in gräulich, bläulich, grünlichen Räumen: Als wären Christoph Marthalers Figuren in die Bilder von Edward Hopper geflohen und müssten dort auf ihren letzten Einsatz in der Endzeit warten.
«A Pigeon Sat on a Branch Reflecting on Existence» fängt mit einem Bild an, das den Titel lange nachklingen lässt: Ein fassungsloser Museumsbesucher steht vor einer ausgestopften Taube, und schaut und schaut und schaut, während am Ausgang seine Frau darauf wartet, dass er endlich zu Ende geschaut hat. Zu sehen ist da allerdings wesentlich viel mehr.
Lokal – Global
Andersson ist der schwedischste der Schweden: Er ist in der Provinz des Grauen zu Hause. Dennoch weisen seine schillernden Bilder weit über Schweden hinaus: Wenn Soldaten die Frauen aus dem Restaurant zu vertreiben, dann nur, weil gleich der einzigartige König kommt, um einen Krieg gegen Russland beliebt zu machen.
Carl XII reitet gleich hoch zu Ross in die Bar am Eck und rekrutiert, nach einem Glas Wasser, den Barkeeper zu seinem Soldaten (und gleich auch Geliebten), der denn auch bei ihm im Zelt schlafen soll.
Ein paar Bilder später will der gleiche König, auf dem Rückweg von der (wegen des Regens) verlorenen Schlacht, seiner Notdurft nachgehen. Doch da ist die Toilette leider besetzt. Und der Barkeeper tot.
Anderssons Humor ist von gewaltsamem Ausmass, aber eben nicht immer zum schreien komisch: Während ganz langsam ein Eisenbahnzug wuchtig vorbeirollt, zerstreiten sich die beiden Scherzartikel-Geschäftspartner ausgerechnet darüber, dass der eine immer viel zu
langsam geht. So geht er. So. Soo langsam!
Andersson ist längst über Marthaler und Kantor hinaus. Aber ihn verbindet mit Ihnen eine enorme Theatralität. Die Aktionen sind bei ihm filmische Marter. Aber theatralisch lässt er uns mit jedem Bild frohlocken. Er hat die klaren Bilder von Kantor und die Figuren von Marthaler. (Und, für uns Schweizer: Sätze, die von Ernst Burren stammen könnten). Sie sprechen ganz tief aus ihm:
Andersson, der Mensch von nebenan
Andersson interessiert sich für die Verzweiflung der Menschen von nebenan. Jedes Bild ist in das graublaugrüngrau Nebellicht getaucht. Jedes erzählt seine Geschichte. Jedes enthält in seiner Geschichte eine Verbindung zu den anderen. Andersson liebt die Weiderholungen. Nicht, um etwas deutlicher zu machen. Er macht die simpelsten Dinge vieldeutig. Der Kapitän hilft im Frisiersalon aus: Er hat schliesslich im Militär Haareschneiden gelernt. Ein Paar Bilder später werden die Militärs geschlagen aus einer Schlacht zurückkehren.
Einzelne Bilder werden durch Sätze verbunden, die Alltag der Menschen von nebenan auf den Punkt bringen, und, die sich wie ein Mantra einprägen: «Es gibt auch Menschen, die morgen früh ausfstehen und arbeiten!» oder «Das ist aber schön, zu hören, dass es euch gut geht!».
Andersson liefert die Bilder. Der Zuschauer macht den Film
Anderssons Bilder prallen erst in unseren Köpfen zusammen: Da winder sich ein Tierversuchs-Affe unter Stromstössen der Reflexmaschine, während die Assistentin unbeeindruckt telefoniert («wie schön zu hören, dass es euch gut geht»), ohne das Äffchen zur Kenntnis zu nehmen. Kurz darauf stellt der Verkäufer der Scherzartikel in seinem Altenheim die Frage, die ihn nicht schlafen lässt: «Darf man Menschen missbrauchen, um es lustig zu haben?»
Seine Figuren sind tief im Alltag steckengeblieben. Andersson lässt sie uns in Situationen treffen, in denen die kleinen Verzweiflungen wachsen. Seine Figuren stehen nach dem Krieg an der Bushaltestelle und begrüssen sich mit dem Satz: «Da ist es also wieder Mittwoch!». Harmlose Sätze entwickeln in unseren Köpfen seltsame Tragweiten: Geschichte ist eine endlose Kette von Wiederholungen. Dann bis nächste Woche.