Elefanten und Vögel, 9. Mai 2002

Die Landschaft ist eintönig, die Autobahn ein Schauspiel und Moffat sieht aus, als ob es seit jeher dahinschlummere.

Autobahn zwischen Moffat und Glasgow. (Bild: Urs Buess)

Die Landschaft ist eintönig, die Autobahn ein Schauspiel und Moffat sieht aus, als ob es seit jeher dahinschlummere.

Auf alten Stichen aus dem achtzehnten und auch aus dem neunzehnten Jahrhundert posieren manchmal Wanderer mit grossen Hüten und schauen von einer Anhöhe auf ihre Stadt – auf Freiburg, Strassburg oder Zürich zum Beispiel. Der Betrachter des Stichs spürt dann vielleicht eine leise Sehnsucht, seine Heimat für ein paar Stunden auch einmal so besiedelt zu erleben, wie er sie auf diesen Bildern sieht. In die Stadt dort vorn hineinzuwandern, ohne einen grauen Industrie- und gesichtslosen Agglomerationsgürtel durchqueren zu müssen. In ein Gasthaus zu sitzen, ein kühles Glas Wein zu bestellen. Oh, verlorene Romantik.

Moffat ist nicht Zürich, Frei- und Strassburg, aber ein Fleck mit zweieinhalbtausend Einwohnern, zwei mächtigen Kirchtürmen, einem kleinen Zentrum für Wollverarbeitung und vor allem: Es weckt die Illusion, zweihundert Jahre lang stehen geblieben zu sein. Blickt man von der Anhöhe auf Moffat, hat man wirklich für einen Moment lang das Gefühl, in einem Stich des 19. Jahrhunderts gelandet zu sein.

Und die Illusion hält an, die niedrigen Häusern reihen sich an der Strasse aneinander, als ob sie schon Jahrhunderte hier stünden. Es wirkt auch gastlich, dieses Moffat, eine grosse Zahl geschmacksvoller Gasthäuser, stille Gassen. Die Landschaft ringsum ist weit bis in die Hügel hinauf grün, überall unregelmässig verstreute Punkte – weidende Schafe in unermesslicher Zahl.

Der Autobahn entlang, wo Elefanten donnern

Eine Wohltat, kommt man von Crawford her, erst auf altem Römerweg, der sich weite Strecken lang im Weideland verliert, dann stundenlang parallel zur Autobahn. Das Wasser des Daer Water nimmt es mit dem Lärm der schweren Camions recht gut auf und übertönt den Motorenkrach. Man sieht sie nur vorbeirauschen, die Vierzigtönner, die Glasgow zu donnern oder umgekehrt den Weg nach Nordengland suchen. Lebensmittel, gefroren oder auch nicht, Möbel, Pflegematerial für Autos, Tiere, lebende, tote, Blumen, Fische, gefroren, Baumaterial, ein Fertigbauhaus rauscht vorbei, was – hinter einer Böschung – surreal wirkt. Dazwischen die kleinen PWs, die flink überholen – und, aus gewisser Distanz betrachtet, wirkt es fast rührend, wenn ein Vierzigtönner-Elefant zum Überholen ansetzt, kaum fünf Stundenkilometer schneller als der langsamere, an dem er sich vorbeikämpft.

In solcher Weite einer Landschaft lässt sich eine Autobahn gelassener anschauen, als wenn sie sich durch ein besiedeltes und enges Tal zwängt. Wen schon bedrängt ein Camion hier, wen stört in dieser Menschenleere der Lärm? Die Chauffeure, gestern Abend noch an Bars wie jener im Crawford-Hotel, wirken verloren hinter den Steuerrädern, sind morgen anderswo, der eine nächste Woche vielleicht in Sizilien.

Und langsam durchdringt einen der Lärm, hat die Sinne stärker betäubt, als man wahrhaben will. Oben, auf einer kaum befahrenen Nebenstrasse, die nach Moffat führt, höre ich die Autos nicht mehr und plötzlich erdrückt mich die Stille. Was war das vorhin? Und was jetzt? Ein anderer Lärm plötzlich, ein Konzert. Aus dichtem, vor wohl zehn Jahren aufgeforstetem Nadelholz tönen Tausende von Vögeln.

ti-düü-ti-düü

Ein gleichmässiges Pfeifen, Singen, Trillieren. Und einer dieser Vögel dominiert, er spielt ein unglaubliches Repertoire aus. Erneut die Erkenntnis, im Leben so vieles gelernt und vergessen zu haben: Vogelstimmen. Ich habe sie mal unterscheiden können, diese Vogelstimmen, und wenn ich es nicht vergessen hätte, könnte ich diesen lauten Angeber-Vogel vielleicht beim Namen nennen. Wie er den hohen trillernden Ton herunterzieht, als sauge er die Luft ein, dann zwitschert er gurrend – und zi-witt, oder, spitzer, ziwi-witt, und ti-ri-rigg, oder witt-witt-witt und klangvoll ti-düü-ti-düü. Und noch etwas wird mir bewusst: Sowenig wie man einen Geruch, einen Duft so beschreiben kann, dass er unverkennbar ist (ausser man sagt: es schmeckt wie Vanille), so schlecht lassen sich Vogelstimmen mit Buchstaben festhalten. Auch wenn das Ornithologen immer wieder versuchen.

Und dann plötzlich eben der Blick auf Moffat, auf diesen malerischen Fleck, umweidet von all den Schafen mit ihren Lämmern. Die wenigen Autos, die vorbeifahren, stören sie nicht, aber der Wanderer erschreckt die Lämmer. Erstaunt starren sie mich an, die Mütter etwas gelassener. Gemächlichen Schrittes erst, dann aber doch in leichten Lauf übergehend, entfernen sich die Muttertiere. Die kleinen schwarzgefleckten Gesichter der wollig weissen Jungtiere schauen immer noch erstaunt, suchen dann die Mutter, sehen sie wegeilen und hopsen ihr in ungelenken Sprüngen nach. Ein Blick zurück, dann flugs den Kopf unter das zottige Fell der Mutter, die Zitzen zur Beruhigung suchend. Und – haben sie sie gefunden – wedeln sie mit ihrem Stummelschwänzchen ganz wild und aufgeregt, die Gefahr für einen Moment vergessend. Dann ist der Eindringling auch schon vorbei, geht Moffat zu und sucht nach einer Unterkunft.

(Moffat, 9. Mai 2002)

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