Elektrobike-Boom frisst Pioniere

Der rasant wachsende Elektrovelo-Markt lockt globale Konzerne an. Schweizer Pioniere wie Marktleader und «Flyer»-Produzent Biketec, «Acron»-Antriebsentwickler Electragil oder «Stromer»-Produzemt BMC kommen in Bedrängnis.

Immer mehr Leute fahren E-Bike. Dies wirkt sich eher negativ für kleinere Hersteller und Pioniere aus. (Bild: Nils Fisch)

Der rasant wachsende Elektrovelo-Markt lockt globale Konzerne an. Schweizer Pioniere wie Marktleader und «Flyer»-Produzent Biketec, «Acron»-Antriebsentwickler Electragil oder «Stromer»-Produzemt BMC kommen in Bedrängnis.

«Electragil geht der Strom aus», meldete letzte Woche «cyclinfo», ein onlineportal, das über die Fahrradbranche informiert. Nachfragen bestätigen: Die junge Schweizer Firma Electragil mit sechs Mitarbeitern, die den Velo-Elektroantrieb «Acron» entwickelte und produzierte, hat soeben den Betrieb eingestellt. Betroffen davon sind unter anderem die Elektrovelos der Marke «Impuls», welche die Thurgauer Firma Tour de Suisse anbietet. Am Produkt kann es nicht liegen, denn der innovative «Acron»-Antrieb hat bei einem Test der unabhängigen Zeitschrift «Velojournal» am besten abgeschnitten. Doch der defizitären Firma ist das Geld ausgegangen. Ob sie saniert wird, bleibt offen, ist aber eher unwahrscheinlich.

Mühe im Elektrovelo-Geschäft haben nicht nur kleine Einsteiger, sondern auch grosse Pioniere, allen voran der Marktleader Biketec: Vor zwölf Jahren erwarben das Verkaufstalent Kurt Schär und der Techniker Hans Furger den Nachlass der defizitären  «BKTech AG» und gründeten die Firma Biketec AG. Ihr Produkt namens «Flyer» hatte anfänglich kaum Konkurrenz, denn die Elektrobikes füllten damals nur eine winzige Nische im schweizerischen und europäischen Velomarkt.

Vom «Flyer» zum Boom

Erst ab 2007 begann der grosse Boom: Innerhalb von nur fünf Jahren verzehnfachte sich die Zahl der jährlich verkauften Elektrovelos in der Schweiz, nämlich von 5800 im Jahr 2007 auf 53 000 im Jahr 2012 (siehe Grafik). Ähnlich steil verlief die Wachstumskurve in Deutschland und in weiteren europäischen Ländern. 2013 hingegen sei ein «Jahr der Konsolidierung», melden befragte Händler. Im Klartext: Nachdem der Absatz schon 2012 nur noch leicht wuchs, dürfte er 2013 stagnieren oder sogar zurück gehen.

Mit dem Boom, den sie anschob, wuchs auch die «Biketec»: Im Jahr 2012 produzierten ihre 200 Angestellten annähernd 50 000 Elektrovelos und erzielten damit einen Umsatz von rund hundert Millionen Franken, bestätigt Kurt Schär. Schätzungsweise (die genaue Zahl ist geheim) 30 bis 40 Prozent ihrer Elektrovelos setzt die Biketec im Inland ab; sie verfügt somit in der Schweiz noch über einen Marktanteil von rund einem Drittel (der Rest verteilt sich auf Dutzende von weiteren Marken). Die Biketec hängt heute also mehrheitlich vom Export ab.

Globale Konzerne steigen ein

Die bis 2011 rasant wachsende Nachfrage nach Elektrovelos zog neue Anbieter an wie der Honig die Fliegen, dazu gehören Firmen aus Ostasien. Allerdings konkurrenzieren diese Billigproduzenten die im oberen Preis- und Qualitätssegment angesiedelte Biketec und andere Schweizer Hersteller nur bedingt. Ein weiteres Kuchenstück eroberten Tüftlerfirmen wie die eingangs erwähnte Electragil.

Die grösste Bedrohung für die einheimischen Pioniere stellen heute globale Konzerne dar, die ins Elektrobike-Geschäft drängten oder drängen. Dazu gehört etwa der mächtige Motorenhersteller und Autozulieferer Bosch, der seit zwei Jahren mit verschiedenen Elektrobike-Herstellern den Markt erobert. Ab nächstem Jahr wird der globale Komponenten-Produzent Shimano unter dem Namen «Steps» ein eigenes Elektrovelo produzieren und auf dem europäischen Markt anbieten.

«Das Elektrovelo hat sich von der Innovation zum Massenprodukt gewandelt. Mit dem Einstieg der Branchenriesen steigt der Preisdruck auch im oberen Qualitätssegment. Industrielle Produktion und Logistik verdrängen damit innovative Tüftler», analysiert Pete Mijnssen, Chefredaktor der Zeitschrift Velojournal. Damit droht die Gefahr, dass der Boom seine Pioniere frisst wie weiland die Revolution ihre Kinder.

Biketec-Gründer steigen aus

Auf diese neue Bedrohung reagieren nationale Anbieter, indem sie „einen finanzkräftigen Götti“ (Mijnssen) suchen. Der Marktleader Biketec hat ihn bereits gefunden: Er liess sich sein  Kapital von der Ernst Göhner Stiftung kräftig aufstocken, womit diese die Göhner-Stiftung jetzt über die Mehrheit an der Biketec verfügt. Der bisherige operative Chef und Verwaltungsrats-Präsident Kurt Schär gibt seine Funktionen ab. Er zieht sich aufs Amt eines strategischen Beraters zurück. Neuer Chef der Biketec wird ab März 2014 der branchenfremde Simon Lehmann, heute Chef der Hotelplan-Tochter Interhome.

BMC wird saniert

Schon Anfang 2013 hatte auch die Berner Firma «Thömus Veloshops», welche die teuren Elektrobike-Modelle namens «Stromer» produziert, ihre finanzielle Basis verbreitert. Sie fusionierte ihr Elektrobike-Geschäft mit der Velofirma BMC von Andy Rihs. Sie profitiert damit von den Millionen, die Rihs als Hersteller von Hörgeräten verdiente und jetzt ins Velogeschäft verlocht.

Allzu viel Geld will Rihs künftig aber nicht mehr verlieren. Darum hat er diese Woche eine «Reorganisation» seiner BMC Gruppe eingeleitet und das Management ausgewechselt. «Thömu» Binggeli, der den defizitären «Stromer» in die BMC-Gruppe hineinbrachte, muss die operative Führung abgeben. Als Trost darf er das Präsidium des Verwaltungsrates vom alternden Andy Rihs übernehmen und sich – wie Biketec-Gründer Schär – künftig «strategischen Fragen» widmen.

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