Elias Dahler will raus

Elias Dahler ist innerlich ein 21-jähriger junger Mann – und äusserlich schwerstbehindert. Wie verträgt sich das?

«Die Behinderung hat meinen Geist eingezwängt»: Elias Dahler im Garten seiner Eltern.

Am freisten ist Elias Dahler spätnachts. Wenn der Monitor an ist und er ein letztes Mal die Worte auf dem Bildschirm liest, bevor er sie in die Welt entlässt. Worte, die aus seinem Kopf kommen, direkt aus seinem Innersten, genau so, wie er sie gerne sagen möchte.

Was nicht selbstverständlich ist. Elias kann nämlich weder sprechen noch schreiben noch tippen. Zumindest nicht so, wie es alle anderen können. Er ist gefangen in einem starren, zuckenden Körper, der ihm nicht gehorcht.

Darum ist er spätnachts vor dem Bildschirm am freisten. Weil es keinen Unterschied macht, ob der Körper zuhört oder nicht. Was in diesen Momenten zählt, sind Elias Gedanken. Und von denen hat er eine Menge.

Am sonnigen Nachmittag, an dem wir Elias vor seinem Elternhaus treffen, wird es auch um diese Gedanken gehen. Dennoch ist die Schranke sofort spürbar: Hier sitzt ein Mensch, der sich nur mit Mühe verständigen kann. Und wir als Besucher können uns nur mit Mühe in diesen Menschen hineinversetzen.

«Es muss einfach aus mir heraus.»

Mutter Claudia lacht, als sie sich daran erinnert. Sie hat ein sanftes, freundliches Gesicht und merkt genau, wenn ihr Sohn etwas sagen will. «Dazu möchte Elias jetzt etwas sagen», sagt sie dann jeweils und zeigt auf das Brett, das vor Elias‘ Rollstuhl befestigt ist. Das ganze Alphabet ist da drauf, dazu links ein SOS-Zeichen und ein Bild, auf dem ein Glas mit Wasser abgebildet ist. Es braucht nicht viel, um sich mit seinem Umfeld verständigen zu können. Und doch ist es ein Kraftaufwand. Claudia zeigt jeden Buchstaben und sobald der Passende kommt, verdreht Elias die Augen nach oben. Er sagt: «E-S  M-U-S-S   E-I-N-F-A-C-H   A-U-S   M-I-R   R-A-U-S.»

Sprachgewandt dank Buchstabenplatte.
Sprachgewandt dank Buchstabenplatte. (Bild: Donata Ettlin)

Claudia nickt und führt aus. «Wenn es draussen ist, dann bist du jeweils erlöst, gell? Vor allem dank des Schreibens. Das ist für dich Verarbeitung von allem, was drückt.» Elias verdreht die Augen. «Und wenn ein Text fertig ist, machst du ihn sofort auf die Homepage, es wird nicht noch diskutiert, sondern sofort aufgeschaltet.»

Dominik und Claudia schauen sich an. Sie sind eingespielt, wissen genau, was ihr Sohn meint und wie er es gesagt haben möchte. Sie lächeln. Man sucht nach Spuren der Sorge in ihren Gesichtern. So ein Kind bedeutet Arbeit, Stress, Angst, kaputte Träume. Oder? Die Klischees schleichen sich wieder ein, behindertes Kind, jesses, was für eine Bürde. «Jeder weiss es, das Leben ist gefährlich – dabei wird leicht vergessen, dass schon beim ‹auf die Welt Kommen› Glück und Unglück ganz nahe beieinander stehen können», sagen seine Eltern später.

Abends muss ich oft ins Bett, wenn meine Eltern müde sind. Dann höre ich die Anderen, wie sie es lustig haben. Ich glaube, dass ich überflüssig bin. Ich fange fast an zu weinen, so fest schüttelt es in mir. Dazu bekomme ich auch noch das merkwürdige Gefühl, dass ich niemand darauf anzusprechen traue, weil ich sie dadurch belasten würde. Ich weiss, wenn ich das sagen würde, müsste ich nicht so früh ins Bett gehen. Aber ich weiss auch, dass ich eine Belastung bin für meine Familie.

Elias weiss von dieser Bürde und wird auch nie davon erlöst sein – dank des Schreibens kann er seiner Frustration aber Luft machen. Einmal die Woche trifft er sich mit einer Freundin, die seine Antworten in Worte verwandelt. Elias diktiert und sie schreibt es auf. Jede Woche zwei Stunden. Bis ein Eintrag fertig ist, dauert es bis zu drei Monaten. Elias feilt an jedem Wort, zwei-, drei-, viermal wechselt er es aus, bis es für ihn stimmt. Ein ständiges Ringen um die richtigen Worte, nennt es Claudia.

In der Endphase geht es dann ganz schnell: Elias liest die Texte kurz noch einmal durch und publiziert sie ohne Umschweife auf seiner Website. Nur ganz selten korrigiert er noch was. Wenn es da ist, muss es raus.

Elias Eltern führen oftmals für ihn seine Sätze aus – aber immer genau so, wie er es will.
Elias Eltern führen oftmals für ihn seine Sätze aus – aber immer genau so, wie er es will. (Bild: Donata Ettlin)

Das war nicht immer so: Anfangs konnte Elias nur Ja und Nein, per Kopfbewegung. So konnte er aber immer nur reagieren und keine eigenen Sätze formulieren. Nach einer Weile meinte der Logopäde, er solle die für Menschen mit Einschränkung übliche Zeichensprache lernen. Man setzte Elias vor einen Bildschirm mit diesen Symbolen, versuchte sie ihm beizubringen. Aber der wählte immer nur ein Zeichen an: die Schreibmaschine.

Also versuchte man es mit Schreiben. Und Elias sprach sofort darauf an. Er lernte schnell, entgegen aller Erwartungen. «Experten sagen, es gäbe keinen Spracherwerb, wenn man nicht selber sprechen könne. Aber eben…», Dominik schaut zu Elias, «…es gibt auch Ausnahmen.»

Gemeinsam erweiterten sie mit Elias dessen Wortschatz, die Tante zeichnete Karten mit allem drauf, was Elias umgab. Und dann fragten sie: Ist das jetzt eine Blume oder ein Auto? Und Elias konnte mit Ja oder Nein antworten. Die Symbole der Zeichensprache lernte er nie.

Nach dem Schreiben kam das Zeichnen: Via Kopfbewegung steuert er einen Cursor auf dem Computerbildschirm, der so für ihn Zeichnungen anfertigt.

Häuserschluchten, verbindende Strassen: Eine Karte aus Elias Kopf.Häuserschluchten, verbindende Strassen: Eine Karte aus Elias Kopf. (Bild: www.eliasdahler.com)

Es sind nüchterne Zeichnungen, von Rennfahrern oder Klötzen und ganz oft von Gebäuden, Hochhäusern, mit dünnen Strassen dazwischen.

Das Zeichnen bedeutet für mich, für eine Sequenz meine Behinderung zu vergessen. Dann driftet meine Gedankenwelt in die endlose Atmosphäre. Ich bin manchmal so absorbiert, dass ich selbst nicht wage zu glauben, dass ein fertiges Werk durch meinen Kopf gegangen ist.

Die Zeichnungen fertigt er in einer Werkstatt des Vereins «Leben in Vielfalt» (LiV) in der Aktienmühle an und verkauft sie auf seiner Website. Die Suche nach diesem Arbeitsplatz war mit grossen Mühen verbunden: Jahrelang haben Claudia und Dominik nach einer Stelle für Elias gesucht, zeitweise war er an zwei Plätzen, musste hin und her, wurde kaum gefördert noch beschäftigt.

Ich sitze in meinem Büro. Dann blicke ich zum Fenster hinaus. Die Morgenstrahlen verfliessen über die Häuserdächer und mein Gesicht wird dadurch erfrischt und warm. Ich fange fast an zu weinen, weil ich denke, ich hocke im Gefängnis.

Liebe gibt es viel in Elias Leben. Die körperliche Liebe aber ist was anderes.

Das Personal war überfordert oder desinteressiert, ganz genau wisse man das am Ende nicht, sagen sie. Aber jeder habe das Recht auf Arbeit und auf ein selbstbestimmtes Leben – auch wenn er dabei auf enge Unterstützung angewiesen ist.

Ich finde, dass die Institutionen festgefahren sind, weil sie Angst haben, dass sie den Trott, den sie schon immer gehabt haben, verlieren würden. Sie haben auch Angst, sie würden sich überbeanspruchen, weil sie der Sicht sind, dass man doch an sich selbst nicht arbeiten muss.

Eine Erinnerung hat Elias auf seinem Blog festgehalten: Er sitzt mit seiner Familie im Auto nach Apulien. Es ist dunkel draussen, er sieht die Lichter vorbeirasen. Elias spürt, wie er im Auto festgemacht ist, er schaut auf die gegenüberliegende Fahrbahn und plötzlich durchzuckt ihn eine Eingebung: Man sieht jeweils immer nur den Schatten vom eigentlichen Menschen. Man ist sich nicht bewusst, wie viele auf der Autobahn fahren, wer sich hinter den Autos verbirgt. Jeder fährt einfach und interessiert sich nur für sich selbst. Das machte ihm Angst.

Ganz in mir drin ist eine verschlossene Kapsel. Die hat einen tiefen Riss in der Schale. Er rumort und reibt sich selbständig.

Auch ein wichtiges Thema ist die Liebe: Elias bekommt viel Liebe von seinem Elternhaus, das ist in jeder Bewegung Claudias und Dominiks spürbar. In keiner Weise führt er ein weniger aktives Leben als seine Brüder, ganz im Gegenteil: Elias hat viel Energie und geht gerne mit Freunden an belebte Orte, um sich zu unterhalten. Liebe gibt es viel in Elias Leben. Die körperliche Liebe aber ist was anderes.

Die Kapsel ist wie eine Muschel, die mich auf- und zureisst. Sie hat einen Kern, der mich immer wieder anknabbert. Er assoziiert mir dann eine Frau, die mit mir schläft. Das erweckt in mir einen Stress. 

Der Arzt sagte, dass das Hirn eines so jungen Menschen wie eine Knospe zu verstehen ist. Niemand kann sagen, auf welche Weise sie sich entfalten wird.

Er denkt oft über Frauen nach oder zumindest dreht sich viel auf seiner Website darum. Wie es wäre, eine Freundin zu haben, mit ihr zusammen zu wohnen, endlich die Art von Nähe zu bekommen, die ihm das Elternhaus nicht geben kann.

Ich spüre, dass ich eine Freundin brauche, aber meine Behinderung steht mir im Weg. Ich muss mich manchmal dazu zwingen, dass ich glaube, jemand wartet auf eine Liebesbeziehung mit einem körperlich schwer behinderten jungen Mann. 

Claudia und Dominik schauen sich an. Sie wissen nicht, wie es weitergehen wird. «Es ist nicht immer einfach, gell», sagt Claudia und meint damit wohl sowohl ihren Sohn wie auch ihren Mann. Als Eltern eines Kindes mit schweren Behinderungen ist man immer ganz nah dran, auch da, wo es sehr wehtut. Auch da, wo andere Eltern selten hinkommen.

Wo es hingeht, kann niemand sagen. Man habe halt schon Träume für die Zukunft, meinen die beiden. Eine eigene, betreute Wohnung vielleicht. Ein selbstbestimmtes Leben, noch selbstbestimmter, als es jetzt sei. Und Elias schreibt auf seiner Website: «Das Wort ‹Hirngespinst› bedeutet für mich etwas ganz Befriedigtes. Zum Beispiel: Ich träumte von einem Business mit Karten, die ich selber zeichne und dann professionell drucken lasse. Heute verkaufe ich viele Karten.»

Kurz nach Elias‘ traumatischer Geburt gab ein erfahrener Neurologe Claudia und Dominik ein Bild mit auf den Weg: Er erklärte ihnen, dass das Hirn eines so jungen Menschen wie eine Knospe zu verstehen ist. Selbst die Spitzenmedizin kann diese Knospe immer nur von aussen betrachten. Man sieht äussere Verletzungen, aber niemand kann sagen, auf welche Weise sich die Knospe entfalten wird.

Elias im Garten seiner Eltern, mitten in den blühenden Pfingstrosen – das Bild nehmen wir mit.

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Am Wildwuchs wird aus Elias‘ Blog vorgelesen: Samstag, 3. Juni, 18.15 Uhr, Festivalzentrum Kasernenplatz.

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