Endspurt im Wahlkampf zwischen Sauerkraut und Crêpe Suzette

Zum Schluss des französischen Wahlkampfes bringt Präsident Sarkozy erneut das «Deutschland-Argument» ins Spiel. Ein Lehrstück über nationale Faszination, ein wachsendes Wirtschaftsgefälle – und eine etwas einseitige Bewunderung.

Nicolas Sarkozy und Angela Merkel nach einem Treffen wegen der Finanzkrise im Oktober 2011. (Bild: Keystone)

Zum Schluss des französischen Wahlkampfes bringt Präsident Sarkozy erneut das «Deutschland-Argument» ins Spiel. Ein Lehrstück über nationale Faszination, ein wachsendes Wirtschaftsgefälle – und eine etwas einseitige Bewunderung.

Eine kleine Bemerkung genügte, um eine nationale Debatte neu zu lancieren. Der sozialistische Präsidentschaftskandidat François Hollande warf seinem Rivalen Nicolas Sarkozy am Mittwoch vor laufender Kamera vor, er habe gegenüber Angela Merkel «nicht standgehalten». Der Präsident konterte erbost: «Sie wagen es, mir vorzuwerfen, ich hätte nichts von Deutschland bekommen? Und was ist mit der europäischen Wirtschaftsregierung? Was ist mit der Europäischen Zentralbank?»

Hollande hatte noch weitere Munition «made in Germany» bereit. Er meinte, die Arbeitslosigkeit liege in Frankreich mit zehn Prozent fast doppelt so hoch wie jenseits des Rheins, und fügte an: «Deutschland hat es besser gemacht als wir.» Sarkozy fragte giftig zurück, warum der Sozialist dann die deutschen Reformen verweigere. «Antworten Sie!», donnerte er, als Hollande der Gegenfrage auswich.

Deutschland als heimliche Gast im TV-Duell

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte am Tag nach dem Schlagabtausch, Deutschland sei bei dem TV-Duell in Paris der «heimliche Gast» gewesen. Wobei «heimlich» eine höfliche Untertreibung ist: Die Deutschland-Debatte wogt im französischen Wahlkampf seit Wochen. Die Rechte argumentiert, Frankreich liege wirtschaftlich hinter dem grossen Nachbarn zurück, weil die Linke die notwendigen Reformen hintertreibe; die SPD-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder habe in Deutschland das Rentenalter viel stärker erhöht als die französische Rechte unter Sarkozy. Das stimmt: Die Deutschen müssen in Zukunft bis 67 Jahre arbeiten, die Franzosen nur bis 62 Jahre; und Hollande will sogar in Einzelfällen auf 60 Jahre zurückgehen.

Eine weitere Vergleichszahl kam im TV-Duell zur Sprache: Während Deutschland immer mehr exportiert, hat Frankreich 2011 ein rekordhohes Handelsdefizit von 75 Milliarden Euro eingefahren. «Made in France» hat es global schwer; die deutschen Autos verkaufen sich hingegen wie warme Semmeln – gerade in Frankreich. Dort wirbt Opel heute in einem Werbespot sogar auf Deutsch: «Eine deutsche Technologie, eine deutsche Idee» – das verstehen sogar Franzosen, die nie ein Wort Goethe im Original gelesen haben.

Vorbild contre cœr

82 Prozent der Franzosen nennen Deutschland heute als Vorbild. Eine Herzensangelegenheit machen sie daraus mitnichten. Seit dem Weltkrieg wird die «deutsch-französische Freundschaft» zwar eifrig zelebriert. Viele Städte und Gemeinden pflegen über den Rhein hinweg Partnerschaften, und bei den Staatsdîners wird bewusst Sauerkraut und danach Crêpe Suzette aufgetischt. Viele Regierungspaare wie De Gaulle-Adenauer, Giscard-Schmidt, Mitterrand-Kohl, Chirac-Schröder und Sarkozy-Merkel, kurz «Merkozy» haben erfolgreich für die Normalisierung einer historischen Rivalität gearbeitet. Trotzdem bleibt die Beziehung zwischen den zwei alten Kernnationen in Kontinentaleuropa eine reine Vernunftehe.

Von den alten Ressentiments aus mehreren Kriegen, die beidseits einen furchtbaren Blutzoll forderten, ist kaum mehr etwas zu spüren; verschwunden ist in Frankreich auch das böse Wort «boche» für den hässlichen Deutschen. Heute dominiert französischerseits eine Deutschland-Faszination, die von Neid und einem historischen Minderwertigkeitskomplex genährt wird. Vielleicht auch, weil sich Frankreich gegenüber Deutschland auf Augenhöhe befindet, und sich nicht wie die Schweiz die Rolle des David gegen Goliath einnimmt. «Die EU ist ein dauernder Schönheitswettbewerb, und Deutschland hat ihn wieder einmal gewonnen», meint der Pariser Ökonom Jean-Paul Fitoussi, immerhin Vertreter eines schönen Reiselandes mit Haute Couture und ebensolcher Cuisine.

Zugleich bringen die Franzosen den Deutschen wirklichen Respekt entgegen – und dies nicht nur wegen der Wirtschaftsleistung. «Deutschland scheint heute weniger in seiner Vergangenheit gefangen zu sein als Frankreich, das noch nicht alle Tabus seiner eigenen Geschichte beseitigt hat», schreibt der Historiker und Germanist Jacques-Pierre Gougeon.

«Sarkozy redet nur von Deutschland»

Diese Hochachtung ist zum Teil einseitig: Die Franzosen sind den Deutschen weniger wichtig als umgekehrt. Dies kommt in allen Umfragen zum Ausdruck. Finanzminister Wolfgang Schäuble besänftigt dafür gegenüber Le Monde, er möge «französisches Kino und den Charme von Paris». Angesichts der Erfolgsmeldungen der milliardenschweren Exportmaschine ist das ein kleiner Trost. Vereinzelt kommt in Frankreich auch Ärger hoch über die «teutonische Dampfwalze», die auch das Dritte Reich geboren habe. «Er spricht ja nur von Deutschland!», meinte eine Französin im Januar zu Sarkozy, der bei einem Fernsehauftritt fünfzehnmal das deutsche Vorbild erwähnt hatte. Der Sozialist Arnaud Montebourg kritisierte das «deutsche Diktat» in Sachen EU-Budgetpakt, der ehemalige Mitterrand-Berater Jacques Attali warf Berlin gar vor, mit den Sparappellen ganz Europa «in den Selbstmord zu treiben».

Konjunkturell bedingt kommt die Deutschland-Kritik in Paris heute vor allem von links. Ansonsten sind die französischen Sozialisten sehr europa- und deutschlandfreundlich, während konservative Franzosen noch eher vor dem deutschen Übergewicht warnen. Sarkozy selbst hatte 2007 an die deutsche Adresse maliziös erklärt: «Frankreich hat keinen Völkermord begangen, keine Endlösung erfunden, sondern die Menschenrechte. Frankreich ist das Land, das sich auf der ganzen Welt am meisten für die Freiheit eingesetzt hat.»

Sarkozy schlägt Merkels Angebot aus

Zum Schluss des Wahlkampfs war Sarkozy offenbar auch nicht so sicher über die Wirkung des Deutschland-Arguments: Er verzichtete schnöde auf Angela Merkels Angebot, ihn bei einem Wahlkampfauftritt zu unterstützen.

Langfristig fühlt sich Frankreich ohnehin nicht mehr auf den grossen Nachbarn im Osten angewiesen. Wie das demographische Institut Ined in Paris kürzlich mitteilte, werden die heute 65 Millionen – und erstaunlich gebärfreudigen – Franzosen in weniger als einem halben Jahrhundert zahlreicher sein als die gegenwärtig 82 Millionen Deutschen: 2055 werden gemäss Prognose beide Länder die Zahl von 72 Einwohnern erreicht haben. Dann ist Frankreich in Kontinentaleuropa endlich wieder Numéro Un.

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