Viktor Orban setzt mit seiner Flüchtlingspolitik seinen bisherigen undemokratischen Kurs fort. Mit den neuen Gesetzen gegen Migranten verletzt er auch die Freiheit seiner eigenen Bürger, schreibt die ungarische Schriftstellerin Zsófia Bán. Es sei an der Zeit, dass Europa endlich klar Stellung beziehe.
In den vergangenen Tagen kursierten in der ungarischen Facebookwelt «Nicht-in-meinem Namen»-Statements, welche das unmenschliche und flüchtlingsfeindliche Vorgehen der ungarischen Regierung ablehnen. Am Anfang des Textes kann jeder seinen eigenen Namen einfügen. Das Statement beginnt mit dem Wort «Ich», darauf folgt der Name, die Erwähnten, danach die Meinungsäusserung. Es handelt sich um eine individuelle und unabhängige Handlung.
Dies ist eine wichtige Möglichkeit der freien Meinungsäusserung für all jene, die derzeit in Ungarn das Gefühl haben, dass wirkungsvolles Handeln bzw. dessen öffentliche Darstellungsformen sich für die Bürger auf ein Minimum reduziert haben.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat 2003, vor mehr als einem Jahrzehnt, sein Werk «Ausnahmezustand. Homo sacer» veröffentlicht, das heute beängstigend an Aktualität gewonnen hat. Es ist vielleicht sogar die präziseste Reflexion in Bezug auf die momentane Flüchtlingssituation, vor allem aber bezogen auf die anstehende ausserordentliche Gesetzesänderung, die ab 15. September in Ungarn in Kraft tritt. Flüchtlingen, die illegal über die ungarisch-serbische Grenze kommen, drohen dann mehrjährige Haftstrafen oder sogar Abschiebung.
Agamben hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Recht im Ausnahmezustand die Politik kontaminiert, also verunreinigt. In einer solchen Situation verschwindet der politische Spielraum zwischen Gesetz und Leben, in dem menschliches Handeln möglich wäre, so Agamben. Weil aber nur individuelles Handeln die Zwänge der Gesetze brechen kann, gibt es im Ausnahmezustand immer weniger Möglichkeiten, um als Staatsbürger gegen den Staat aufzutreten.
Es drängt sich die Frage auf, ob die ungarische Regierung nicht genau dieses Interesse vertritt: Nämlich ihr flüchtlingsfeindliches Vorgehen, welches schon vor geraumer Zeit mit einer fremdenfeindlichen und aus Steuergeldern finanzierten Plakatkampagne begann, nun auch im Ausland zu verbreiten.
Das neue Gesetz verachtet nicht nur die Würde der Flüchtlinge, ihre Menschlichkeit und Freiheitsrechte, sondern auch die Freiheitsrechte der ungarischen Staatsbürger.
Das von der ungarischen Regierung am vergangenen Freitag im Schnellverfahren und mit Hilfe der rechtsextremen Jobbik Partei verabschiedete Gesetz verachtet nicht nur die Würde der Flüchtlinge, ihre Menschlichkeit und Freiheitsrechte, sondern auch die Freiheitsrechte der ungarischen Staatsbürger. Es gefährdet im äussersten Fall deren Leben. Denn es erteilt auch der Polizei und dem Militär Rechte, die es seit der Einführung der demokratischen Werteordnung nicht mehr gab.
In diesem Zusammenhang ist es vielleicht kein Zufall, dass gerade jetzt der Fidesz-Verteidigungsminister Csaba Hende aus unbekannten Gründen zurückgetreten ist. Es wird vermutet, dass Hendes Aufsicht über den Bau des Grenzzaunes Viktor Orban missfiel, da die Frist zur Fertigstellung nicht eingehalten wurde.
Die ungarische Regierung hat sich anstelle einer gerechten Flüchtlingspolitik fortwährend darauf berufen, die EU-Gesetze einhalten zu wollen – unabhängig davon, dass diese Haltung die Situation nur verschlimmert hat und darüber hinaus auch die eigenen Bürger in eine unerträgliche Lage versetzt hat. Deshalb stellt sich nun die Frage, in wessen Namen diese Regierung handelt und wessen Interessen sie eigentlich vertritt.
Die Berufung Viktor Orbans auf den Schutz der «christlichen Werte» lässt sich einfach zurückweisen, da das neue Gesetzespaket gegen alles verstösst, was jemals christliche Werte verkörpert hat. Und nachdem sogar das Oberhaupt der ungarischen katholischen Kirche, Peter Erdö, kundtat, dass Menschen, die Flüchtlinge aufnehmen, zu «Menschenschleusern werden», musste dieser erst vom Papst persönlich auf die Peinlichkeit seiner Aussage hingewiesen werden.
Die Berufung Viktor Orbans auf den Schutz der «christlichen Werte» lässt sich einfach zurückweisen, da das neue Gesetzespaket gegen alles verstösst, was jemals christliche Werte verkörpert hat.
In einem religiös und kulturell vielschichtigen Europa beziehen sich die ungarische Regierung und Kirche nun auf eine einzige Glaubensideologie und deren Überlegenheit, so, als ob es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hätte, und als ob solch eine Ausschlusspolitik nicht Auschwitz zum grössten ungarischen Friedhof gemacht hätte.
Der lange Schatten dieser Tatsachen legt sich dunkel über die aktuellen Ereignisse. Täglich fragen wir uns, ob das, was jetzt passiert, dem ähnelt, was schon früher einmal passiert ist und woher man wissen soll, wann man aufstehen sollte und «Nein!» sagen sollte gegen willkürliche Gesetze.
Immer mehr drängt sich die Frage auf, wann diese Regierung, die schwerwiegenden Missbrauch betreibt und nur mithilfe der rechtsextremen Jobbik-Partei überhaupt ihre Zweidrittel-Mehrheit aufrechterhalten kann, gestoppt wird. Und es stellt sich die Frage, wie die gedankliche Mehrheit einer Person («a majority of one»), über die Henry David Thoreau bereits im 19. Jahrhundert in seiner politisch-philosophischen Schrift «Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat» schrieb, erzeugt werden kann.
All dies passiert heute in Ungarn. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs steht entlang unserer Grenze erneut ein Stacheldrahtzaun. Der Stacheldraht scheint ein wiederkehrendes, heimatliches Symbol zu sein.
25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs steht entlang unserer Grenze erneut ein Stacheldrahtzaun.
Auch die Behauptung Orbans, sich auf europäische Werte zu berufen, stimmt nicht. Entweder distanzieren sich die europäischen Führungsmächte, wie etwa Deutschland, klar vom Vorgehen der ungarischen Regierung. Oder sie lassen einen neuen östlichen Block entstehen, wie er sich bereits mit den Vereinbarungen der Visegrad-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und der Slowakei abzeichnet, als diese am 4. September verpflichtende Flüchtlingsquoten als «inakzeptabel» bezeichneten.
Darüber hinaus ist die Aussage Orbans, die Interessen der «ungarischen Menschen» zu schützen, ebenso falsch. Denn die «ungarischen Menschen» sind ebenso die vielen freiwilligen Helfer, die die Flüchtlinge unterstützten, als der Staat ihnen jegliche Hilfe versagte. Sie konnten zumindest die Situation der Flüchtlinge erleichtern, die an den Budapester Bahnhöfen gezwungen waren auszuharren und ihrer Würde beraubt wurden.
Mit ihrer Hilfsbereitschaft hat die ungarische Zivilgesellschaft gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung demonstriert. Sie hat mit Decken, Wasserflaschen, Medikamenten und ein paar Buntstiften dem Ungehorsam endlich wieder eine menschliche Stimme gegeben.
Juden, Roma, Liberale oder anders Denkende haben schon hergehalten als Sündenböcke. Jetzt sind die Flüchtlinge an der Reihe.
Aber in wessen Namen agiert und agierte die Regierung dann? Gibt es wahrhaftig eine Legitimation, den Ruf eines ganzen Landes zu schädigen und ein Volk der permanenten Scham auszusetzen? Wer wird der Bevölkerung Entschädigung für den mentalen, psychischen Schaden bieten? Von den übrigen, bleibenden Schäden gar nicht zu sprechen, welche seit 2010 der demokratischen Gesetzgebung, der Bildung, dem Gesundheitswesen, den Künsten, den Medien und der Politik zugefügt werden.
Die nicht abgeschlossene Verarbeitung der Vergangenheit mit ihren historischen Traumata von Trianon, dem Zweiten Weltkrieg und den Leiden während des Kommunismus reisst lediglich immer neue Wunden auf. Aufgrund der weissen Flecken in der ungarischen Geschichte ist eine Heilung der erkrankten Psyche der Bürger ausgeblieben. Stattdessen wird heute in Ungarn Hass geschürt und stets ein Sündenbock gesucht, der bewusst die Frustration und Aussichtslosigkeit der existenziell ausgelieferten Bürger nährt.
Juden, Roma, Liberale oder anders Denkende haben schon hergehalten als Sündenböcke. Jetzt sind die Flüchtlinge an der Reihe. Vielleicht bleibt noch ein winziger Moment übrig, um diese Wunden zu heilen. Und vielleicht zeigen die EU und die demokratischen Grossmächte so viel Einsicht, dass sie nicht nur kurzfristig das Feuer löschen, sondern ihre eigene Verantwortung für die Flüchtlingspolitik eingestehen. Das sei nicht unser Bier, sagen Europa und die ungarische Regierung, zu der Ursache der Probleme, nämlich den Kriegen im Nahen Osten. Währenddessen geht aber alles den Bach hinunter.
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Zsófia Bán, 1957 in Rio de Janeiro geboren, aufgewachsen in Brasilien und in Ungarn, lehrt Amerikanistik in Budapest. 2012 erschien von ihr «Abendschule – Fibel für Erwachsene» bei Suhrkamp. Mehr zur Schriftstellerin. Diesen Text hat Zsofia Schmidt (n-ost) aus dem Ungarischen übersetzt.