Es könnte einer der schlimmsten Giftgasangriffe seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien sein: In Chan Scheichun in der Provinz Idlib wurden am Dienstag laut Aktivisten fast 60 Zivilisten bei einem Luftangriff getötet, bei dem mutmasslich Giftgas freigesetzt wurde.
Der Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte zufolge sind unter den mindestens 58 Opfern 19 Kinder und 11 Frauen. Zudem meldete die Beobachtungsstelle aus der von Rebellen kontrollierten Stadt im Nordwesten des Landes Dutzende Verletzte. Die Rettungshelfer der Organisation Weisshelme berichteten sogar von 240 Verletzten.
Die Menschenrechtsbeobachter erklärten, Jets hätten am Morgen mehrere Angriffe geflogen. Menschen seien in Ohnmacht gefallen, hätten sich erbrochen und Schaum vor dem Mund gehabt. Der Zustand vieler Verletzter sei ernst. Bilder im Internet zeigten zahlreiche Leichen und Opfer, die mit Sauerstoff behandelt wurden.
Ein Arzt aus der Stadt Idlib berichtete in einer Audio-Nachricht, das Spital sei überfüllt. Es gebe zu wenig Sauerstoffgeräte, um die Patienten zu behandeln. Unter den Opfern seien viele Kinder.
Später am Tag hätten Jets Chan Scheichun erneut angegriffen, meldeten die Menschenrechtler. Andere Aktivisten erklärten, bombardiert worden sei eine Klinik, in der Verletzte behandelt worden seien.
Die Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen. Die Menschenrechtler sitzen in England, stützen sich aber auf ein Netzwerk von Informanten in Syrien. Ihre Angaben haben sich als zuverlässig erwiesen.
UNO-Sicherheitsrat mit Dringlichkeitssitzung
Mehrere Stellen machten die Regierung von Baschar al-Assad für den Angriff verantwortlich. Die syrische Luftwaffe wies den Giftgas-Vorwurf zurück. Ein syrischer General, der ungenannt bleiben wollte, erklärte, die syrische Armee habe in Chan Scheichun kein Giftgas eingesetzt.
Die Vereinten Nationen kündigten eine Untersuchung an. Der UNO-Sicherheitsrat wollte am Mittwoch auf Antrag Frankreichs und Grossbritanniens zu einer Dringlichkeitssitzung zusammenkommen.
Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel verurteilte «den offensichtlichen C-Waffenangriff». «Solche Kriegsverbrechen müssen bestraft werden», zitierte Regierungssprecher Steffen Seibert die Kanzlerin auf Twitter.
Die Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW) zeigte sich zutiefst besorgt. Die Syrien-Ermittler des UNO-Menschenrechtsrates untersuchten den Vorfall, teilten sie in Genf mit.
USA: Russland und Iran mitverantwortlich
Die USA riefen Russland und Iran in scharfen Worten dazu auf, ihren Einfluss auf Assad geltend zu machen. «Es ist klar, wie Assad operiert: mit brutaler, unverfrorener Barbarei», erklärte US-Aussenminister Rex Tillerson am Dienstag in Washington in einer Mitteilung.
Jeder, der chemische Waffen einsetze, um seine eigenen Leute anzugreifen, zeige eine fundamentale Verachtung für menschlichen Anstand und müsse zur Rechenschaft gezogen werden. «Wir rufen Russland und Iran auf, ihren Einfluss auf das syrische Regime auszuüben und auszuschliessen, dass sich eine solch schreckliche Attacke wiederholt», schrieb Tillerson.
Die USA waren erst vor wenigen Tagen von ihrer bisherigen Linie abgerückt und hatten erklärt, die Syrer seien selbst für ihre Zukunft und die Assads verantwortlich. Die jüngste Äusserung Tillersons ist eine neuerliche Wende.
Brüchige Waffenruhe
Chan Scheichun liegt im Süden der Provinz Idlib, die von unterschiedlichen Rebellengruppen kontrolliert wird. Eigentlich gilt in dem Bürgerkriegsland seit Ende des vergangenen Jahres eine von Russland und der Türkei ausgehandelte Waffenruhe. Diese ist jedoch brüchig. Ausgenommen von der Waffenruhe sind die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und die Al-Kaida-nahe Organisation Tahrir al-Scham. Diese ist besonders in der Provinz Idlib stark.
UNO-Ermittler hatten Syriens Regierung im März vorgeworfen, in den vergangenen Monaten im Kampf um die Stadt Aleppo und andernorts Chlorgas eingesetzt zu haben. Ein Bericht der Untersuchungskommission des Menschenrechtsrates sprach von mindestens fünf Chlorgas-Angriffen regierungstreuer Kräfte seit Anfang dieses Jahres.
Bereits 2013 waren östlich der Hauptstadt Damaskus bei Angriffen mit Giftgas rund 1400 Menschen getötet worden. Die Opposition und der Westen machten dafür Syriens Regierung verantwortlich. Diese stimmte danach zu, alle Giftgasvorräte zu vernichten. Chlor fiel jedoch nicht unter das Verbot, weil es für zivile Zwecken benötigt wird. Im vergangenen Dezember starben einer Hilfsorganisation zufolge in der Provinz Hama bei einem Giftgasangriff 93 Zivilisten.