In den Abruzzen kann man sich sehr einsam vorkommen – menschenleere Täler, wenig Verkehr und heruntergekommene Dörfer auf Schritt und Tritt.
Das Grotto nel Nera in Arrona liegt ziemlich allein in diesem Talboden, nicht weit rauscht der Fluss, der in dieser Jahreszeit sonst wohl ein Rinnsal ist. Es waren wunderbare Szenen gestern Abend, denen ich zugucken konnte. Eine Familie, die dem etwa achtjährigen Sohn Pizza vorsetzt, sie in mundgerechte Stücke schneidet und dieser hängt ununterbrochen am Telefonino, kaut und erzählt dem oder der Unbekannten, was auf der Pizza ist. Ein alter Mann mit umgekehrt aufgesetzter Baseballmütze isst sich quer durch die Speisekarte, kann nicht richtig sprechen, brabbelt aber dennoch pausenlos und der Wirt sehr behandelt ihn sehr zuvorkommend. Ein junges Paar rauscht herein, bestellt grossspurig, doch kaum sind Contorni und Wein auf dem Tisch, läutet das Natel, sie müssen gehen, die junge Frau macht ein sehr enttäuschtes Gesicht. Zwei andere kommen, bestellen, rümpfen die Nase, geben jeden Gang zuerst einmal zurück.
Sitze oben noch lang vor dem Kamin, habe das Holz angezündet, es brennt langsam und bedächtig, draussen prasseln die Tropfen auf eine Veranda. Ich erschrecke, als ich hinausblicke: ein Kopf vor dem Fenster. Es ist ein Bernhardinerhund, der sich niedergelegt hat, mit trüben Blick in den nassen Himmel schaut und am Morgen noch dort liegt. Nur kurz steht er auf, streckt die Schnauze ins Zimmer, als ich lüfte. Hab wohl noch nie Wand an Wand mit einem Hund geschlafen. Schau ihm nochmals in die Augen. Er ist blind.
Immer wieder Regen
Der Himmel nach wie vor bedeckt, aber es regnet nicht mehr. Richtung Rieti geht es erst mal dreihundert Meter Höhenmeter hinauf, ich schaffe sie in morgendlichem Übermut, komme in ein Tal, von dem wiederum von jedem Hügel kleine Dörfer oder gar Castelli grüssen. Zwei Seen rechterhand, etwas bräunlich in dieser Witterung, es wird hier wohl sehr schön und beschaulich sein, wenn es sommerlich heiss ist. Zwischendurch regnet es, stehe immer wieder unter ein Dach, fahre Richtung Rieti, kurve kurz in die Stadt, um Geld aus dem Bankomaten zu holen. Ein verschlafenes Nest, muss irgendwann seine Blüte gehabt und eine eindrückliche Stadtmauer gebaut haben. Jetzt überall und vor allem Zeichen, dass der Stolz verschwunden, dass alles vernachlässigt ist. Kaum Menschen in den Gassen, kaum ein halbes Dutzend auf dem grossen Platz, in den Bars, der Bahnhof leer.
Borgerose ist vierzig Kilometer entfernt, liegt hinter dem Valle die Salto mit dem Lago di Salto. Die ersten zehn Kilometer trete ich flott in die Pedale, denke über die schweigsamen Menschen nach, die in den Bars sitzen, schnell Geld wechseln gehen oder eine Süssigkeit holen, einen Kaffee trinken. Es ist Sonntag und sie stecken alle in auffallend schmutzigen, bäurischen Kleidern. Hundert Kilometer entfernt von Rom, aber weit, weit von der Hauptstadt weg.
Am lebendigsten die jugendlichen Burschen, meist kurvenkreischend in rassigen Fiats unterwegs, laute Musik, zu fünft in einem Wagen und höhnisch grinsend, dass da einer mit einem Velo unterwegs ist. Oft hupen sie und lachen dümmlich und laut.
Das Tal zum Lago di Salto ist topfeben, menschenleer, die Strasse hellgrau, links und rechts steigen hohe Abbruzzen-Berge an, dicht bewaldet. Kaum ein Auto, Dörfer gar keine, Gebäude kaum und wenn schon, dann sind es Ställe, Schober. Die Dörfer kleben oben auf den Hügeln.
Zerbröckelnde Staumauer
Ich hatte gehofft, ich hätte nach meinem ersten Pass am Morgen die Höhe des Sees erreicht – auf der Karte keine Höhenangaben – doch das war eine Täuschung. Nach beschwingten Kilometern in einem gottverlassenen Tal in dichtestem, nassem Laubwald gings bergan und ich stand dann unvermittelt vor einer dunklen und unheimlichen Staumauer, die beim Bau in den vierziger Jahren eine der höchsten in Europa gewesen sein soll. Die Natur erobert sie sich zurück, in den Beton haben sich Bäume und Sträucher eingefressen. Es ist gar nicht schwer, sich vorzustellen, wie sie einst zerfallen wird, zerbröckeln wie all die Gebäude in dieser Gegend.
Die Strasse entlang dem See ist eine Tortur: Flüssig zu fahren zwar, aber sie folgt jeder Bucht, und es hat viele davon. Kaum Dörfer und wenn mal eines, dann stehen die Einwohner bang auf der Strasse, schauen in den grauen Himmel und blicken besorgt und beleidigt – das ist nicht ihr italienischer Sommer. Manchmal steht ein Auto im Wald, der Fahrer steht unten am Ufer und hält die Angelrute ins Wasser. Selten überholt ein Auto. Wenn aber eines kommt, dann schauen die Leute blöd, und der Fahrer hupt.
Mit der Zeit verschwindet der See aus meinem Blickfeld, dichter, dichter Wald am Ufder. Ich spüre langsam den italienischen Waldkoller.
Erste Velo-Panne
Und gegen Ende des Sees steigt die Strasse wieder an. Der Anstieg kommt mir vor wie eine Beleidigung. Kurve nach Kurve immer höher – und da registriere ich die erste Panne: Eine Verstrebung des Packträgers ist gebrochen, der Rucksack schwankt besorgniserregend. Er ist halt einfach zu schwer. Versuche zu flicken, kann es aber nur notdürftig.
Wald, immer wieder Regen und schliesslich stehe ich auf dem nächsten Abbruzzenpass, auf neunhundert Metern Höhe. Das hat Kraft gekostet.
Die trübe Landschaft, die verhangenen Berge, die manchmal durchdrängende Sonne ergeben ein beängstigendes Szenario. Ein Albergo habe ich seit einem halben Tag nicht mehr gesehen. In Fiamignano schütteln die Leute den Kopf auf entsprechende Fragen. Sie stehen vor heruntergekommenen Bars, und ich überlege mir, eine Flasche Wein zu kaufen und irgendwo einen trockenen Unterschlupf zu suchen.
Da geht die Strasse wieder runter, steil und lang, das heitert mein Gemüt etwas auf, doch sie steigt auf den nächsten Pass. Keine Ausweichmöglichkeiten.
Ein freundlicher Mensch in San Elpidio führt mich zu einer Art Pension, warnt mich aber, dass sie sehr heruntergekommen sei. Seine Warnung wäre nicht nötig gewesen, denn kein Mensch ist weit und breit. Später rät mir jemand: Fahr neun Kilometer weiter, dort ist ein schönes Hotel, etwas teuer zwar, aber schön.
Und da sitz ich nun. Etwas teuer ist es – dieses schäbige Motel am Ende einer Ausfahrt der Autobahn Roma – Aquila. Die Storen sind elektrisch, funktionieren aber nicht, die Glühbirnen kaputt, die Polster durchgesessen – ich bin in Italiens Süden angekommen, südlich von Rom. Dort, wohin die Leute aus dem Norden ihr Geld hinschicken müssen und es versickern sehen, wie sie sagen.
(Borgorose, 11. August 2002)