#SchweizerAufschrei hat mich vom Gleichstellungsbefürworter zum Feminismuskritiker gemacht. Ganz einfach darum, weil mir Letzteres angesichts der aktuellen Debatte rund um das Unwort «Sexismus» dringlicher erscheint, um mit dem gewünschten gesellschaftlichen Wandel in die Gänge zu kommen.
Zur Beruhigung vorneweg: Es steht hier nicht zur Diskussion, ob wir in unserer Gesellschaft Übergriffe auf Körper und Psyche tolerieren sollen oder nicht. Wir müssen sie verhindern und verurteilen. Sexuelle Belästigung, Diskriminierung, Mobbing und Ausbeutung jeglicher Art sind ein Übel, und es ist unsere Pflicht, dagegen vorzugehen.
Darum rannte der #SchweizerAufschrei bei mir anfänglich, wenn man so will, offene Modem-Ports ein. Mehrheitlich Frauen und vereinzelte Männer berichten in den ersten Tagen unter dem Hashtag über Erlebnisse von sexuellen Übergriffen. Wenn auch einige ein paar Jahre zurück liegen: Die Fülle war erdrückend, die geschilderten Erlebnisse beklemmend.
Johannes Sieber ist Kulturunternehmer und Gay-Aktivist.
Das hätte gut werden können, wären nicht ein paar Tage später die Massenmedien auf den Hashtag aufgesprungen, um sich ihr Stück vom Aufmerksamkeitsuchen abzuschneiden. Die Klickrate ist bekanntlich die neue Einschaltquote, und Politikerinnen – die sich systembedingt nie zu schade sind, die Gunst der Stunde für Popularität und Profilierung zu nutzen – berichteten engagiert über Sexismus im Bundeshaus.
Unter die Aufschreie aufgrund sexuell motivierter Gewalt mischt sich die Empörung über Komplimente für gutes Aussehen und schöne Stiefel – oder Kochbücher mit dem Titel «Männerküche». Die Aktion entgleist in eine unreflektierte Empörungsbewirtschaftung.
Privilegierte weisse Männer
Zwei Wochen und eine hilflos theoretische SRF-Diskussionsrunde zum Thema später haben wir dank #SchweizerAufschrei gelernt: Der weisse, heterosexuelle Mann hat ein Problem. Er ist in einer privilegierten Situation und sich dieser nicht bewusst. Darum versteht er nicht, warum Frau sich über sein Verhalten empört.
Einzig klar scheint: Alles ist nicht gut, und es lässt sich auch nicht so einfach korrigieren. Nicht indem er etwas sagt, und schon gar nicht, indem er schweigt. Er soll in sich gehen und zur Einsicht kommen, wie er sein Verhalten verändern muss, um… ja, was eigentlich genau? Mit der Summe aller Aufschreie haben wir eine Checkliste, wie Mann sich nicht verhalten soll. Vom physischen Übergriff bis zum Lob der hübschen Stiefel. Alles wird ihm im grossen Schreien als Sexismus ausgelegt – erdrückend undifferenziert.
Denn was die Nationalrätin Mattea Meyer stört, wenn nach einer Kommissionssitzung nicht ihr Referat, sondern ihre Kleidung gelobt wird, ist, dass sie nicht ernst genommen wird. Was die junge Frau stört, wenn sie wegen einer Gruppe dubioser Gestalten nachts die Strassenseite wechselt, ist, dass sie Angst vor Pöbeleien und physischer Gewalt haben muss.
Was die Clubberin stört, wenn ihr auf der Tanzfläche aus dem Hinterhalt an den Hintern gegriffen wird, ist, dass ihre körperliche Integrität nicht respektiert wird. Was die potentielle Nachfolgerin für den CEO-Posten stört, wenn ihre Karriere im Grosskonzern an die gläserne Decke stösst, ist die fehlende Chancengleichheit.
Zurecht!
Auch so mancher Mann fragt sich im Club: «Drückt die jetzt schon wieder ihre Oberweite an mich?»
Doch offensichtlich geht es bei diesem «Sexismus» nicht nur NICHT um Sexualität, es geht auch NICHT um das Geschlecht. Wie sonst erklärt Frau es sich, dass auch Mann nachts aus Angst die Strassenseite wechselt, am Arbeitsplatz nicht ernst genommen wird, der falschen Religion angehört oder zu einer Gruppe mit sexuellen Vorlieben jenseits der Norm gezählt und dafür verhöhnt wird?
Dass auch Mann es nicht in den Regierungsrat schafft oder ins Top-Kader von multinationalen Unternehmen, ins Kanzleramt oder zum Präsidenten der Vereinigten Staaten? Und ob Frau es glaubt oder nicht: Auch so mancher Mann fragt sich im Club: «Drückt die jetzt schon wieder ihre Oberweite an mich, oder ist es einfach eng hier?»
Damit sage ich nicht, die Männer seien die eigentlichen Opfer. Ich sage: Sie sind AUCH Opfer. Die Privilegien sind komplexer verteilt, als es in der aktuellen Debatte zum Ausdruck gebracht wird. Und: Die Parallelen hinsichtlich der Leidensgeschichten sind grösser, als der zurzeit hör- und vor allem lesbare Feminismus es zu verstehen bereit scheint. Warum, ist mir ein Rätsel. Denn genau das wäre die Chance für Allianzen – und diese wiederum die Basis für den ersehnten Wandel.
Mir zumindest scheint es aktuell vorwiegend um einen Machtkampf zwischen den Geschlechtern zu gehen. Männer versus Frauen. Wenn ich im Zeitalter von Transgender und non-binären Geschlechtsidentitäten Sätze mit «Pimmel abschneiden» und «Weltherrschaft» lese – wenn auch nicht als Forderung –, dann habe ich doch meine Zweifel, ob diese Diskussion noch konstruktiv ist. Nach dem grossen Schreien müssen jetzt die Probleme konkretisiert und spezifische Lösungen dafür erarbeitet werden. Der Hinweis auf die Ohnmacht der Frau aufgrund eines strukturellen Machtgefüges reicht nicht.
Selbstkritik? Fehlanzeige!
Hätten wir Gay-Aktivisten uns auf den Standpunkt gestellt, die Heterosexuellen seien privilegiert und sollten darum unsere Welt verbessern, hätten wir heute kein Partnerschaftsgesetz. Auch bezüglich der «Ehe für alle» müssen wir ein paar fundamentalistisch verblendeten Zeitgenossen klar machen, dass ihnen an nichts fehlen wird, wenn auch zwei Frauen oder zwei Männer sich ehelichen dürfen. Das gehört dazu, wenn man sich Gleichstellung erkämpfen will.
Doch es würde mir auch angesichts der doch zahlreichen diskriminierenden Äusserungen aus der tendenziell recht-konservativen Ecke nicht in den Sinn kommen, Heterosexuellen eine strukturell bedingte homophobe Übermacht zu attestieren. Und selbst wenn es so wäre, wozu? Wir haben die bisherigen Änderungen zum Guten im Team mit eben ihnen erarbeitet.
Ich sehe in der Debatte die Chance zum ersehnten kulturellen Wandel. Den unzähligen unerhörten Attacken auf Körper und Geist der Schwächeren unserer Gesellschaft aber muss ein Riegel geschoben werden.
Dazu braucht es Verständnis und Anerkennung für unterschiedliche Weltbilder. Das wiederum setzt gegenseitige Kritik voraus. Doch Kritik lässt die Debatte rund um den #SchweizerAufschrei kaum zu – und das ist das Destruktive. Jede Stimme, die nicht in die Kerbe der Empörung schlägt, wird niedergeschrien. Selbstkritik seitens Feministinnen? Fehlanzeige.
Ich habe gelernt, es heisse «Mansplaining», wenn ich den Standpunkt vertrete, dass ein «Männerkochbuch» höchstens denjenigen diskriminiere, dessen kulinarischer Horizont darin auf Fleisch und Bier reduziert wird. Dass ich darin beim besten Willen kein Indiz für ein strukturelles Machtgefüge zur Unterdrückung der Frauen erkennen kann, lenke vom Thema ab – und führte prompt zum Ausschluss aus der Online-Diskussion. Schade.
Wie Nicolas Zegg auf maenner.ch richtig schreibt: «Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe, einen Wertewandel zu vollziehen. (…) Dafür braucht es auch mutige Männer, die sich nicht einfach schützend vor Frauen stellen, sondern sagen, wo sie selber unter den herrschenden Geschlechterverhältnissen leiden.» Mit eben diesen sollten sich die Feministinnen der Stunde verbünden – und mit grosser Wahrscheinlichkeit sind da auch weisse heterosexuelle Männer darunter.
Auf mich wirkt der Feminismus dieser Debatte so konservativ wie das Weltbild, das er kritisiert. Den weissen, heterosexuellen Mann generell als privilegiert und darum als potentiellen Unterdrücker zu verstehen, ist so undifferenziert und kurzsichtig wie Ausländern pauschal Kriminalität zu unterstellen.
Darum wünsche ich dem Feminismus eine neue Welle, mit der er sich von seiner Geschichte emanzipiert. Und dass es ihm gelingt, über die überholten Geschlechtergrenzen und -rollen hinaus Allianzen zu schliessen, denn die sind dringend nötig.