Es ist leicht, in der Innenstadt Trinkgenossinnen für eine Nacht zu finden. Ganz echt fühlt sich die Nähe aber nicht an. Protokoll eines nächtlichen Streifzugs.
22.05 Uhr
Ich starte am Barfi, so wie ich immer am Barfi starte, wenn ich in der Innenstadt durchstarte. Kommt selten vor.
Techno Dance tönt aus dem alten Stöckli. Davor sitzen Jugendliche in Bomberjacken auf weissen Fellen. Ich strecke meinen Kopf rein. Drinnen leuchtet ein Discoscheinwerfer gewagt in Rot und Blau, das Hirschgeweih an der Wand fühlt sich alt, der junge Barkeeper sexy. Er tanzt von hinten einen Gast an, der auf einem Barhocker sitzt. Dann sieht er mich: «Komm.»
22.30 Uhr
Jedes Bistrotischchen ist besetzt. Anna (36) und Lina (irgendwas mit 60) schreien gerade nach mehr Prosecco. «Vivaaaaa!!!» Als sie sich vor drei Jahren getroffen haben, machte es «bängbäng», sagt Lina. Ihr Mann war auch dabei, als es bängbäng machte, doch seine Stimme geht unter. Eigentlich gehören sie nicht ins alte Stöckli, niemand hier gehört ins Stöckli. Sie alle waren früher in der Lounge 44 in der Steinen, doch das Haus wird abgerissen.
22.45 Uhr
Vor drei Jahren war Lina ganz allein. Ihre Liebe hatte sie verlassen und sie, die aus dem anderen Ende der Schweiz kommt, kannte noch genau einen Menschen in Basel. Eines Abends dachte sie: «Entweder hat der jetzt Zeit für mich oder ich springe von der Brücke.» Der Bekannte sass in der Lounge, Anna ging dahin, und war nie mehr allein – «vivaaaaa!»
22.55 Uhr
Der Staatsangestellte will aufs Tram nach Riehen. Er trinkt gerne ab und zu ein Glas mit Lina und Anna, das ist für ihn wie ein Ausflug raus aus seinem Leben. «Aber du musst wissen: Du und ich, wir sind anders.» Er schläft acht Stunden, geht mit seiner Frau auf Kreuzfahrt, pflegt seinen Garten und verdrängt seine baldige Pensionierung.
23.20 Uhr
Draussen vor dem Stöckli bläst der Sturm den grossen Blumentopf um, die Palme liegt mit nackten Wurzeln am Boden. Zwei Jungs verlassen ihr Schaffell, kriegen die Palme aber nicht zum Stehen. Ein Becher rollt über die Strasse, der Regen will regnen, aber der Wind verbläst ihn in alle Richtungen. Die Taxifahrer sitzen in ihren warmen Autos und warten, jeder für sich.
23.25 Uhr
Fabienne und Ceren überqueren die Strasse in Richtung Des Arts, ein Freund eines Freundes arbeitet da. Der sitzt im oberen Stock auf dem Ledersofa, unter dem grossen Schwertfisch an der Wand. Die Muskeln an den Armen sind definiert, die Haare auf dem Kopf zeigen in Richtung Kronleuchter. Vor dem Fenster schaut die Barfüsserkirche ungerührt auf die Strassenlampe, die in den Seilen hängt und im Wind schaukelt.
23.30 Uhr
Fabienne hat ein Fernsehgesicht. «Einer vom ‹Telebasel› hat mich einmal angesprochen und gesagt, ich soll mich melden.» Sie meldete sich nie.
23.50 Uhr
Wenn Fabiennes Vater jemanden mit Kopftuch sieht, sagt er: «Schau, das sind jetzt genau die, die Schafseckel.» «Nun gut, anpassen müssen sie sich schon, wenn sie zu uns kommen», findet der Freund. Burka geht nicht. Dass Frauen sich hierzulande nicht blicken lassen können, ohne vorher Beine und alles andere rasiert zu haben, kann man nicht mit dem Burkazwang vergleichen, findet er. Ceren schiebt ihre Hose hoch. «Ich bin auf der sicheren Seite.» Das findet der Freund lustig.
Mitternacht
Der Freund des Freundes bringt Wermut-Shots und strahlt eine Ruhe aus, die gut tut, inmitten von Leuten, die etwas suchen, aber nicht wissen, was. Der Freund und Ceren wollen in die Balzbar, Fabienne will nicht. «Da knutschen alle rum und trinken und ich stehe blöd daneben.»
0.20 Uhr
Aufbruch in den Balz Klub. Es ist Studentenparty, aber niemand hier hat einen Studentenausweis. Ceren probiert es mit der Legi einer Bekannten, doch der Türsteher merkts und schickt sie weg.
0.45 Uhr
Die Steinenvorstadt ist leer, der Rollladen vom Club The Venue klappert. Im Modegeschäft gegenüber steht ein Flachbildschirm, auf dem ein Model seine Garderobe vorführt, immer wieder. Es heisst Brian.
0.55 Uhr
Weiter an der Heuwaage vorbei, der Steinentorstrasse entlang, vorbei am Steinengrill und Schaufensterpuppen, die wohl erotisch sein sollten, einem geschlossenen Kiosk. Fünf Frauen mit Fellkapuzen steigen aus einem Auto und schliessen das Gittertor vor dem Hauseingang auf. Es glöckelt leise von oben – ein Windspiel auf einem Balkon. Hier wohnen Leute. Dazu rauscht gleichmässig das Gebläse vom Kino Plaza.
1.05 Uhr
Vor dem Tibits sitzen zwei Frauen und ein junger Mann mit Bechern und rauchen. Sie putzen hier jede Nacht, von Mitternacht bis 4 Uhr. «Wir dürfen schon einmal kurz Pause machen», sagen sie.
1.15 Uhr
Auf dem Birsigparkplatz stehen Abfallsäcke zwischen den Autos. In einem Hauseingang bewegen sich dunkle Gestalten. Was heisst das schon, dunkle Gestalten? Männer in schwarzen Daunenjacken, die in der Kälte ihre Kapuzen über den Kopf gezogen haben. Zurück auf die Strasse. Doch auch hier dunkle Gestalten. Nein, es sind nur zwei Schaufensterpuppen eines Sportladens, sie tragen Kapuzenpullis zum halben Preis. Verdächtig, solche Kapuzenpullis – mein Kopfkino geht an, bevor mein Hirn sich einschalten kann.
1.30 Uhr
Ein Polizeiauto fährt langsam eine Runde um den Barfi, junge Leute stehen umher, reden und lachen, andere steigen in Taxis oder schieben ihre Rennvelos, so viel Luxus muss sein.
1.45 Uhr
Das Gerbergässlein ist menschenleer. Zwischen den engen Dächern leuchtet dunstig der Mond, vor seiner Silhouette ziehen rasend schnell graue Wolken vorbei und verschwinden im Dunkel des Himmels. Noch ein bisschen weiter, bis zum Lohnhofgässlein, zu diesem Plätzchen mit dem Baum, der inmitten der Häuser sein Äste ausbreitet. Sie peitschen im Wind. Ein warmes Licht kommt aus einer Stube mit Holztäfer, ein anderes Fenster leuchtet rot. Es wäre schön, wenn nur nicht dieses Knacken aus den Wasserröhren wäre. Der Barfi und die Leute sind plötzlich weit, weit weg … Bewegt sich da etwas? Schnell weg hier.