Review zu „800 Millionen: Apologie der Sozialen Medien“ von Alexander Pschera (2011) //
In Zeiten der apokalyptischen, hoffnungslosen Schriften über Social Media, sei es Facebook, Twitter oder Google +, sind trostspendende Plädoyers willkommener denn je. Was wäre also wünschenswerter als eine Verteidigungsschrift der sozialen Medien, ganz im Sinne der berühmten Apologie des Sokrates. Sokrates verteidigte sich einst gegen die Anschuldigung der Verführung der Jugend, jetzt verteidigt Alexander Pschera Facebook & Co. gegen nicht unähnliche Vorwürfe. In seinem Buch 800 Millionen: Apologie der Sozialen Medien begibt sich der einstige Philosophiestudent auf den Spuren Thoreaus in die Wildnis des sozialen Netzes und fragt, was die transzendentale Natur der social media bedeuten könnte und wie man dazu stehen soll.
Wovon handelt das Buch?
Vom Versuch, das soziale Netz mit Hilfe von Metaphysik zu verstehen; und somit von Moderne, Mythos, Liebe und spielerischer Freiheit.
Das bedeutet?
Pschera argumentiert, dass soziale Netze nicht als vorübergehende Mode, sondern als modernes Moment (Baudelaire) verstanden werden müssen, also als eine poetische Konstruktion, von welcher etwas Ewiges ausgeht, was immer schon auf ein mögliches Zukünftiges verweist. Dieses Ewige und Poetische sei das Soziale; daher versteht Pschera das soziale Netz als ‚Vorschule der sozialen Zukunft‘. Im Verlauf des Buches wird er seine These konkretisieren zur Aussage, dass das soziale Netz ein Ort sei, an welchem das Subjekt sich wieder als liebendes Subjekt erkennen kann.
Wie soll man das verstehen?
Nach Pschera ist der heutige Liebesbegriff immer dem Prinzip der Arbeit unterworfen: Liebe muss sichtbar, grell und auf Nutzen ausgerichtet sein. Eine, von diesem Leistungsprinzip losgelöste Liebe sei hingegen ein ewiger Moment, sozusagen ein ungreifbarer Augenblick, dunkel und sprachlos. Gerade die oft fürs Gegenteil angeprangerten sozialen Medien sollen uns helfen, den Mund aufzubekommen und die Poesie des Augenblicks zu verstehen. Mit ihrer spontanen Sprache und ständigen Abfolge von Augenblick auf Augenblick lehren sie uns, die augenblickliche und leistungsfreie Liebe wieder zu sehen. Und da wir es sind, die sprechen, erkennen wir zuallererst uns als liebende Subjekte wieder.
Lieblingszitat?
„Die Désinvolture des digitalen Seins ist die Komödie über die Tragödie unseres Selbstmitleids.“
…was soviel heisst wie? Die unkomplizierte, und spielerische Form des sozialen Netzes gibt dem Menschen eine spontane, freie Sprache zurück, um sich beliebig zu äussern. Der Mensch kann sich frei und ungeniert im Netz bewegen und sich spielerisch und komödiantisch darstellen; während er in der ‚realen’ Gesellschaft, welche sich tagtäglich als eine bedrohte inszeniert („als Opfer kapitalistischer Machenschaften, die auf das Sammeln von Daten und das Ausbeuten von Communities angelegt ist“), mehr in seiner Rollenausübung erstarrt, als seine Identität zu suchen. Der Mensch wird in der realen Gesellschaft Teil eines Ressentiments, in welchem man lieber tragisches, sich selbstbemitleidendes Opfer bleibt, anstatt die Präsenz der Social Media zu akzeptieren und die von ihr angebotene, spielerische neue Freiheit auszuleben.
Gibt es Kritik am Buch?
Teils erscheint Pschera etwas sprunghaft in seiner Argumentation, was einige seiner Vorschläge nicht ganz zum Tragen lassen kommt; wie zum Beispiel die Aufforderung sich kontemplativ und optimistisch zum Netz zu verhalten, welche wohl an einem praktischen Beispiel etwas klarer und nützlicher geworden wäre. Auch bleibt die Verbindlichkeit dieser optimistischen Haltung eher lose, es scheint genauso möglich, dass man sich im endlosen Strudel des sozialen Netzes verliert.
Woran erinnert das Buch?
Obwohl ich es als sehr einzigartig in der Verbindung seines Inhalts und seiner Form erachte, könnte man es eventuell mit Henry Thoreau’s Walden oder einer phänomenologischen Betrachtung des sozialen Medien à la Merleau Ponty vergleichen.