Das Burgund ist hinter uns, Haute Sâone vor uns, mit Beizen steht es ähnlich schlecht wie im Burgund und Blasen an den Füssen machen zu schaffen.
Pinocchio heisst das kleine Hotel, in dem wir übernachtet haben und vor dem Schlafengehen zusammen eine, sagen wir mal, sehr starke Zigarette geraucht haben – ein hübsches Kleinod in diesen schmucklos gewordenen Dörfern der Haute Sâone. Ein Schloss trohnt zwar noch über den Häusern von Gy, ein monumentales Triumph-Dach am Eingang der Ortschaft – für wen, wofür? Es hat in diesem verschlafenen Strassennest zwar alles, was wir uns wünschen – Bäckerei, Metzgerei, Früchte, Getränke, einen Zeitungsladen mit Landkarten, Zigaretten und allerhand Kitsch, eine Apotheke (aber auch hier keine Sonnenbrille für Jean-Martins empfindliche Augen in diesem gleissenden Sommerlicht) und einen Coiffeur. Und die Furcht, es könne jemand daherkommen und seine Vier-Millimeter-Borsten-Bedeckung für bieder halten, treibt Büttner in die zart massierenden Hände einer Coiffeuse, die ihm zwei Millimeter weg nimmt. Ich kaufe ihm als intellektuelles Häppchen die Libération über die Strasse hinweg in den Salon und studiere Landkarten.
Wir starten in grosser Hitze, das heisst: zur dümmsten Zeit. Ziemlich genau um Mittag. Oiselay-et-Grachaux ist recht nah, ein paar Erörterungen über die Weltwoche auf der flachen Strecke, knallharte Urteile über gemeinsame Bekannte und in der Steigung schweigen wir, scheuchen Bremsen weg und rechnen damit, zum Beginn der zweiten Halbzeit des Halbfinals Deutschland – Südkorea in Oiselay zu sein. Wir sind es auch, eine Bar hätte ich gefunden, genau vis-à-vis vom Geschäft „Hund und Katze“, aber sie ist geschlossen. Niemand will im Bistro sitzen, und niemand will WM gucken. Frankreich ist seit zwei Wochen ausgeschieden.
Lache über alles, aber …
Wir setzen uns in den trocken daliegenden, überdachten Dorfbrunnen, wo die Frauen vor Jahrzehnten die Wäsche geschlagen haben, packen unser Brot, den Käse und das Wasser aus und lassen uns die Zwischenergebnisse aus Zürich per Natel zukommen. Wir hören, dass Michael Ballack die Deutschen mit seinem Tor ins Finale schiesst. Büttner erzählt Monty-Phython-Anekdoten und wir lachen. Die Phyton-Crew wollte … (nein, ich kann das hier nicht nacherzählen, obwohl wir beide gekreischt haben vor Lachen, denn – wie der von Büttner zitierte französische Komiker sagt: Du kannst über alles lachen, aber nicht mit jedermann.)
Oiselay liegt in Frankreich, in der Haute-Sâone, einer wunderbaren und fruchtbaren Landschaft, es ist heiss, wunderschön, die Häuser sind schmucklos geworden, grau stehen sie an den Durchgangsstrassen. Einzelne architektonische Kunststücke zeigen, dass man schon irgendwann mal versucht hat, wie die Leute weiter westlich ein ganz klein wenig zu protzen mit dem, was man sich zum Wohnen so leistet. So liegt Oiselay da, ausgestorben. Zwei sitzen im schattigen Dorfbrunnen, lachen und erfahren, dass Deutschland ein Tor geschossen hat. Aus Zürich. Hier kein Mensch auf der Strasse, nur Autos fahren manchmal vorbei.
Medizinischer Eingriff
Eine Blase beginnt Jean-Martin zu plagen. Wir behandeln sie ausserhalb des Dorfes, im Schatten einer Hecke, fachkundig tun wir das, gehen dann bergan, die Steigungen werden spürbar, die Geländewellen sind zu Hügeln geworden, durchqueren Wälder und steigen nach Montarlot hinunter. Es ist immer noch sehr heiss.
Ein Pensionär mit nacktem Oberkörper hackt Unkraut aus dem Gemüsebeet. Seine Frau füttert acht Katzen, ausser einer schwarzen alle rothaarig. Die Schule ist aus, die grösseren Kinder machen sich auf den Heimweg. Ein Mädchen gibt uns einen Tipp, wo wir einen schönen Weiher mit einem kleinen Springbrunnen fotografieren können. Das Bächlein zu unseren Füssen treibt eine Zigarettenkippe durch seine Wasser-Flora. Und der Mittagstisch im Schulhaus hat nicht allen geschmeckt. Ein Kind hat alles auf den Pausenplatz gekotzt. Am Schulhaus die Einladung für die Gemeindeversammlung vom kommenden Freitag. Der Maire bittet um ein Mandat, um mit der Telecom über neue Durchleitungen zu verhandeln. Im Wald soll geholzt werden und Büttner erzählt, dass Tom Waits in Paris sehr gern Konzerte gebe.
Letzte Steigung
Wir haben eine letzte, lange Steigung vor uns. Sie fällt uns nicht so schwer, weil wir jenseits, in Rioz, per Handy ein Hotelzimmer reserviert haben. Und trotzdem zieht sie sich hin. Büttner erzählt vom Gynäkologen-Kongress: Aus Italien war Herr Onanini dort, aus Spanien Herr … (ach schon wieder: Du kannst über alles lachen, aber nicht mit jedermann.). Das Lachen fährt in die Knie, und in Rioz scheint es ausser in unserer Absteige kein Restaurant zu geben.
Und wir trinken ein Bier, und wir essen diese Hausmannskost, legen uns in diese Betten in der Dependance, in diese Betten, die sich durchbiegen und den Rücken plagen, die uns schnarchen lassen, auch wenn wir auf der Seite liegen.
(Rioz, 25. Juni 2002)