Der Umgang mit Opfern sexueller Gewalt verläuft laut Fachleuten nicht optimal. Manche Opfer werden durch Verfahren erneut traumatisiert, viele Täter nie gefasst. An einem Symposium diskutierten Experten am Montag in Bern, wie diese Mängel behoben werden könnten.
Die sexuellen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln seien in ihrem Ausmass und ihrer Art zwar einmalig, heisst es in einer Medienmitteilung zum Symposium der Europäischen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation. Sexuelle Gewalt an Frauen und Kindern sei jedoch kein aussergewöhnliches Ereignis, sondern vielmehr ein alltägliches gesellschaftliches Problem.
Viele Übergriffe kommen jedoch gar nie ans Licht; die Täter werden selten verurteilt. Die Mehrheit der Opfer zeigt die Täter gar nicht erst an. Denn eine Anzeige könne sehr belastend sein, sagte Jan Gysi, Organisator des Symposiums und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.
Mängel bei den Verfahren
Jene Opfer, die den Täter anzeigen, sehen sich oft mit Fragen zur Glaubhaftigkeit ihrer Schilderungen konfrontiert. Belastend kann zudem sein, dass sie das Erlebte detailliert schildern müssen. Er habe zwei Patientinnen, die nach einer Einvernahme, die sie als Demütigung erlebten, hoch suizidal gewesen seien, erzählte Gysi am Symposium.
Die Verfahren wiesen aus Sicht von verschiedenen Fachkräften aktuell Mängel auf, heisst es in der Medienmitteilung. Es habe sich zwar bereits einiges verbessert, sagte Gysi. Trotzdem sei die Anzeigequote nach wie vor tief.
Der Mythos der Mitschuld
Ein wichtiger Grund dafür sind laut Gysi sogenannte Vergewaltigungsmythen, in denen beispielsweise sexuelle Gewalt verharmlost oder Opfern eine Mitschuld zugeschoben wird. Diese Mythen seien nicht nur in der Bevölkerung verbreitet, sondern auch unter Fachleuten wie etwa Therapeuten, Polizisten oder Opferberatern – und zwar bei Männern und Frauen.
Auch Opfer glaubten oft an solche Mythen. Das beeinflusse, ob sie sich an eine Beratungsstelle oder an die Polizei wendeten. Es brauche Programme, um diese Mythen zu reduzieren, forderte Gysi. Auch die Fachleute müssten aufgeklärt werden.
Zudem forderte Gysi eine Spezialisierung: Es brauche Spezialisten für Delikte der sexuellen Gewalt, genauso wie es Spezialisten für Wirtschaftsdelikte gebe. Gleichzeitig brauche es einen Austausch zwischen den Berufsgruppen: Psychotherapeuten beispielsweise müssten mehr über die Arbeit der Justiz wissen.
Auch die Politik sei gefordert, sagte Rolf Grädel, Präsident der Schweizerischen Staatsanwältekonferenz, in seinem Grusswort. Die Situation der Opfer habe sich in den letzten 30 Jahren zwar deutlich verbessert, unter anderem dank dem Opferhilfegesetz. Nach den Vorkommnissen in Köln müsse sich die Politik aber den Vorwurf gefallen lassen, in der Prävention bisher zu wenig getan zu haben.
Nur jedes fünfte Opfer reicht Anzeige ein
Sexuelle Gewalt ist gemäss einem Bericht der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) weit verbreitet. Gemäss der Umfrage hat jede dritte Frau in der EU seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Jede 20. Frau gab an, vergewaltigt worden zu sein.
Sexuelle Gewalt wird jedoch gemäss Untersuchungen nur wenig angezeigt, die Täter werden sehr selten verurteilt. In der Schweiz erstatten gemäss einem Bericht des Bundesrats aus dem Jahr 2013 weniger als 20 Prozent der Opfer sexueller Gewalt Anzeige.
Gysi geht davon aus, dass die Realität noch düsterer ist – die Dunkelziffer sei hoch. Die Verurteilungsquote liege gemäss Schätzungen bei rund 3 Prozent. «Es ist eigentlich fast ein straffreies Delikt.»