Was wäre, wenn alle Israeli von Palästinensern und alle Palästinenser von Israeli erzogen würden? Die französische Theatermacherin Lorraine Lévy wagt einen überraschenden Blick auf den ersten Fall. Plötzlich scheinen die die Argumente im Friedens-Dialog nicht mehr so festbetoniert.
Eine Routine-Untersuchung bringt es an den Tag: Joseph ist nicht der Sohn seiner Eltern. Das Blutbild spricht dagegen. Wessen Kind ist er dann? Was jetzt folgt, könnte die dramatische Aufarbeitung eines uneingestandenen Seitensprunges aus früheren Zeiten sein oder die Geschichte eines Kuckuckskindes, das auf Abwege gerät. Doch die Geschichte des «fils de l’autre» kann mehr als das.
Während der Palästina-Israel-Konflikt sich in Schützengräben festgefahren hat und kaum jemand es noch wagt, mit jüdischen oder arabischen Freunden einen Neuanfang zu denken, scheint die Mauer in den besetzten Denk-Gebieten fest betoniert. Gegen diese Denkstarre stellt sich Lorraine Lévy mit «Le Fils de l’autre» auf verblüffend intelligente Weise: Sie legt einen Film vor, der auf bemerkenswerte Weise das Thema von «Rasse als Geburt oder Rasse aus Überzeugung?» anzufassen wagt und ganz neue Denkwege geht. Das ist umso verblüffender, weil sie in einem einfachen Vorgang auf Zusammenhänge verweist, die viel allgemeiner gelten.
Joseph ist nicht die Frucht eines Seitensprungs. Er ist das Produkt einer Verwechslung. Während auf Haifa Bomben fielen, wurde im Kreisssaal das jüdische Baby mit einem anderen Baby verwechselt – mit Yacine, einem Palästinenserkind. Beide wurden ein Leben lang richtig geliebt und ganz falsch erzogen, wie sich nun herausstellt.
Was als Minenfeld und Mauer durch ein Land geht, geht plötzlich als Riss mitten durch zwei Familien. Zwei Elternpaare müssen damit klarkommen, dass sie den falschen Sohn geliebt haben und nun lieben. Zwei erwachsene junge Männer sollen verstehen, dass sie gelernt haben, ihre Feinde zu lieben. Ihre Freunde sollen plötzlich im Feindesland leben. Sie sollen tun, was ihnen die Blutfehde diktiert. Sie sind jenseits der Grenze – die anderen.
«Le fils de l’autre» präsentiert nicht nur einen bemerkenswert souveränen Denkansatz. Lévy führt ihn in der Geschichte auch sehr sensibel weiter. Ein armer Bruder trifft einen reichen Bruder, und sie sind doch keine Blutsbrüder. Zwei wildfremde Familien aus verfeindeten Ländern treffen sich mit einem Mal als Verwandte. Wie einleuchtend das den Konflikt öffnet, lässt sich an den Paarszenen am deutlichsten lesen: Wenn die beiden Mütter sich unbeholfen begrüssen. Wenn der Vater nicht wagt, seinen Sohn zu umarmen, weil er ein Feind sein könnte. Wenn der falsche Vater mit dem anderen falschen Vater im Café sitzend, und jedes Schweigen mehr sagt, als ein hilfloses Wort, während beide stumm in der Tasse rühren, ist das mehr als rührend.
«Le fils de l’autre» trifft eine weitergehende Dimension dieser Erzählung: Vernunft kann bei einer Familienfehde über den Zwang zur Rache siegen. Wenn dann die falsche Mutter dem richtigen Sohn liebend zu begegnen versucht, dann steht plötzlich viel mehr als Israel und Palästina zur Debatte.
Es ist mit einem Mal die Frage gestellt, ob der Besitz an Kindern so zwingend selbstverständlich sei wie der Besitz an Boden oder Gottesglauben. Ob zu diesem Besitztum auch die Köpfe der Kinder gehören? Können Kinder sich aus der religiösen Sippenhaft befreien, zu der man sie erzogen hat? «Le fils de l’autre» ist letzlich ein Film über die Frage, wie es in den Kinderköpfen aussieht, in denen sich Eltern als Eigentümer festgesetzt haben. «Le fils de l’autre» schöpft aber auch aus der Hoffnung, dass selbst in den Hirnen von falsch erzogenen Kindern eine eigene Urteilskraft wächst.
Wenn die palästinensischen Eltern entlang der Mauer in die besetzten Gebiete zum Feind fahren, um das eigene Kind kennenzulernen, fahren sie entlang eines Schützengrabens, der Arm von Reich trennt. Wenn die Kamera dem Blick des armen Sohnes zum Meer folgt, das er noch nie gesehen hat, dann streift sie wie zufällig eine Mauer von Luxus aus Plastikstühlen, hinter der das Meer verschwindet, wie es das hinter der Mauer der Apartheid auch tut. Hinter der Mauer liegt die Armut.
Es ist die Qualität Lorraine Lévys, dass sie solche Bilder sprechen lässt, um zwei Welterklärungen einander gegenüberzustellen: Der Rabbi erläutert dem jüdisch erzogenen Palästinenser Joseph, dass er nie ein richtiger Jude sein könne, auch wenn er das wolle, weil Judentum nicht eine Überzeugung sei, sondern ein Zustand der Natur. Nur Minuten später wirft der fanatisch erzogene Bruder dem palästinensisch erzogenen Juden Yacine vor, dass er die Seite nie wechseln werde.
Ohne zu beschönigen, blickt Lévy in den Gegensatz von Arm und Reich, entlarvt den Mythos, dass Blut dicker sei als Wasser, ebenso, wie sie Kraft der Vernunft gegen die Unvernunft der Geschichte siegen lässt. Die Erzählung der verwechselten Söhne endet – versöhnlich. Aber sie schlägt trotzdem keine halben Lösungen vor: Lévys Film ist eher ein optimischtischer Seufzer: Ach, würden doch in den Kreisssälen im Nahen Osten noch ein paar Millionen Mal diese Verwechslungen passieren! Dann könnten viel mehr Eltern lernen, wie man mit einem Feind umgeht, wenn man ihn liebt wie den eigenen Sohn. Lévy fängt dort an, wo der Besatzungsmacht der Eltern nur schwer auf die Spur zu kommen ist: In den Köpfen der Kinder.