Familien der Opfer nach Berner Urteil ernüchtert

Dass der Berner Missbrauchsprozess ohne Verwahrung des Angeklagten endet, ist aus Sicht von Opfer-Angehörigen „eine Ernüchterung“. Das sagte Bernadette Kaufmann von der Opferhilfe Bern am Freitag gegenüber Journalisten.

Eine Gerichtszeichnung des Angeklagten (Bild: sda)

Dass der Berner Missbrauchsprozess ohne Verwahrung des Angeklagten endet, ist aus Sicht von Opfer-Angehörigen „eine Ernüchterung“. Das sagte Bernadette Kaufmann von der Opferhilfe Bern am Freitag gegenüber Journalisten.

Es bestehe der Eindruck, dass die Strafe zu gering ausgefallen sei, hielt Kaufmann in einem kurzen Statement direkt nach der Urteilseröffnung fest. Das Regionalgericht Bern verurteilte den Mann zu 13 Jahren Freiheitsstrafe, sah aber von einer Verwahrung ab und ordnete stattdessen eine stationäre Massnahme an.

Staatsanwältin Erika Marti hatte die Verwahrung gefordert. Sie liess offen, ob sie das Urteil in den kommenden zehn Tagen weiterziehen wird. Zunächst wolle sie die Urteilsbegründung eingehend studieren, sagte Marti und wies darauf hin, dass das Gericht ihren Anträgen im Wesentlichen gefolgt sei und nur eine „minim tiefere“ Strafe ausgesprochen habe.

Der pädophile Sozialtherapeut werde das Urteil wohl akzeptieren, sagte Pflichtverteidiger John Wyss zu Journalisten vor dem Berner Amthaus. Der definitive Entscheid werde aber erst nächste Woche gefällt.

„Mich hat die Begründung des Urteils überzeugt“, stellte Wyss fest. Dass es keine Verwahrung gebe, halte er für richtig. Die stationäre Massnahme stehe dem Mann zu, sie sei für ihn eine Chance.

Erstaunen bei Heimverband

„Nicht enttäuscht, aber erstaunt“ zeigte sich Ueli Affolter über das Urteil. Der Geschäftsführer des Heimverbandes Socialbern hätte nach eigenen Angaben „nicht erwartet, dass man dem Mann eine Chance gibt. Ich habe mir das anders vorgestellt. Ich hätte beinahe auf eine Verwahrung gewettet“, sagte Affolter.

Er habe all die Opfer-Angehörigen, die dem Prozess beiwohnten, „enorm bewundert“, sagte Affolter. Für sie sei es eine sehr schwere Woche gewesen. Das Urteil vom Freitag werde sie nun „noch mehr aufrütteln“.

Sozialtherapeut misshandelte lange viele Behinderte

Der 57-jährige Angeklagte hatte gestanden, über einen langen Zeitraum 114 Behinderte in mehreren Heimen sexuell misshandelt zu haben. Wegen Verjährung ging es vor Gericht noch um 33 Fälle. Schuldig gesprochen wurde der Mann unter anderem wegen Schändung und sexuellen Handlungen mit Kindern, Abhängigen und Anstaltspfleglingen.

„Extrem“ sei nicht nur die Zahl der Übergriffe, sagte Gerichtspräsident Urs Herren bei der Urteilsverkündung. Extrem sei auch der Delikts-Zeitraum von mehreren Jahrzehnten.

Beim Aktenstudium habe er sich oft gefragt, wie es dem Mann möglich gewesen sei, über so lange Zeit so viele Delikte unentdeckt zu begehen, sagte Herren. Dass es sich bei den Opfern mehrheitlich um schwerstbehinderte Jugendliche und Kinder handle, sei ein Stück weit eine Erklärung.

Herren nannte „ein Beispiel besonderer Unverfrorenheit“. Dabei ging es um den Übergriff auf ein dreijähriges Mädchen während einer Autofahrt. Die Mutter des Kindes am Steuer habe nichts mitbekommen, hatte der Sozialtherapeut ausgesagt.

Ans Licht kamen die Taten erst im März 2010 im Kanton Aargau, nachdem zwei Bewohner eines Behindertenheims ihren Eltern von sexuellen Kontakten mit ihrem Betreuer erzählt hatten. Der Mann wurde daraufhin an seinem Wohnort im Berner Oberland verhaftet. In der Folge gab er die zahlreichen früheren Missbräuche zu.

Die Heimbranche musste sich unangenehme Fragen gefallen lassen zur Tatsache, dass der Sozialtherapeut immer wieder neue Anstellungen gefunden hatte, obwohl er zum Teil als schwierig und unkooperativ eingeschätzt wurde.

Heime und Behindertenverbände lancierten daraufhin eine Charta unter dem Titel „Wir schauen hin!“. Die Unterzeichner verpflichteten sich darin zu einer Null-Toleranz-Politik und zu Präventionsmassnahmen.

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