Familienartikel scheitert am Ständemehr und Stadt-Land-Graben

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird nicht in der Verfassung festgeschrieben. Der Familienartikel ist in der Abstimmung vom Sonntag am Ständemehr gescheitert. Die Skepsis in den ländlich-konservativen Deutschschweizer Kantonen gab den Ausschlag.

Der Familienartikel scheitert am Ständemehr (Symbolbild) (Bild: sda)

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wird nicht in der Verfassung festgeschrieben. Der Familienartikel ist in der Abstimmung vom Sonntag am Ständemehr gescheitert. Die Skepsis in den ländlich-konservativen Deutschschweizer Kantonen gab den Ausschlag.

Am Volksmehr wäre der Familienartikel nicht gescheitert. Eine Mehrheit von 54,3 Prozent hiess den neuen Verfassungsartikel gut. Das für Verfassungsänderungen zusätzlich nötige Ständemehr kam indessen nicht zustande: Elf Kantone und vier Halbkantone lehnten die Vorlage ab, auf der Befürworterseite standen neun Kantone und zwei Halbkantone.

Ausgesprochen deutlich war die Ablehnung in den ländlichen Kantonen der Deutschschweiz. Appenzell Innerrhoden verwarf den Familienartikel mit 72,9 Prozent am wuchtigsten. In den anderen Nein-Kantonen lagen die Anteile im städtischer geprägten Bern bei geringen 50,6 und in Uri bei deutlichen 68,2 Prozent. Auch in Schwyz und Obwalden gab es Nein-Mehrheiten von über 60 Prozent.

Westschweizer und Tessiner Ja-Phalanx

Deutlich zeigte sich beim Familienartikel neben dem Stadt-Land-Gefälle auch ein Graben zwischen den Landesteilen. Mit 79,1 Prozent Ja sprach sich der städtische französischsprachige Kanton Genf am deutlichsten für die Vorlage aus.

Die Waadt kam auf einen Ja-Anteil von 70,7. Im Jura nahmen 70,3, in Neuenburg 69,9 und in Freiburg 62,7 Prozent der Stimmenden den Artikel an. Am wenigsten Zustimmung unter den Westschweizer Kantonen gab es im Wallis mit 57,6 Prozent. 66,7 Prozent Ja-Anteil erreichte die Vorlage im Tessin.

Zu dieser lateinischen Phalanx stiessen Basel-Stadt (65 Prozent Ja), Zürich (53,6) Basel-Landschaft (52,8) und Solothurn (50,4). Auch innerhalb der zustimmenden Deutschschweizer Kantonen zeigt sich damit ein Unterschied zwischen urbanen und weniger urban geprägten Gegenden mit ländlicherem Hinterland.

Dass eine Vorlage ein Volksmehr erreicht, aber am Ständemehr scheitert, ist rar. Wie Claude Longchamp vom Forschungsinstitut gfs.bern im Schweizer Fernsehen SRF sagte, kam dies zum letzten Mal 1994 vor. Damals sagten 52,8 Prozent der Stimmenden Ja zur erleichterten Einbürgerung junger Ausländer, elf Kantone und vier Halbkantone lehnten die Vorlage aber ab.

Artikel mit Mauerblümchendasein

Der Familienartikel führte im Vergleich zur Abzockerinitiative und zum Raumplanungsgesetz im Abstimmungskampf lange Zeit ein Mauerblümchendasein. Der Artikel war zunächst wenig umstritten. Unterstützt wurde er von SP, Grünen, CVP, BDP, GLP und EVP sowie den FDP-Frauen und diversen FDP-Kantonalparteien.

Nein sagten SVP und FDP. Erst in der letzten Phase vor der Abstimmung brachte die SVP die Diskussion auf Touren. In ihrer Broschüre „Extrablatt“ warnte die Partei vor „Staatskindern“ und möglichen Kosten von 12 Milliarden Franken. Weinende Kleinkinder hinter Gittern illustrierten die Argumentation. Kosten liess sich die Partei ihre Publikation gegen eine Million Franken.

Kantone in der Verantwortung

Primär wollte der Familienartikel die Kantone in die Pflicht nehmen. Sie sollten für ein ausreichendes Angebot an Betreuungsplätzen in Krippen, Tagesschulen und Kinderhorten sorgen. Hätten diese Bestrebungen der Kantone, der Wirtschaft und privater Organisationen nicht ausgereicht, hätte der Bund eingreifen und Grundsätze festlegen können.

Mit dem Verfassungsartikel hätte der Bund auch die Möglichkeit erhalten, selber Massnahmen zu treffen oder die Massnahmen der Kantone finanziell zu unterstützen.

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