Faulheit ist keine Ausrede mehr

Konsequent konsumieren ist nicht leicht. Aber es wird, dank elektronischer Hilfsmittel, immer leichter. Eines davon entstand vor über zehn Jahren am Hyperwerk in Basel: Codecheck.

Mit dem Handy wird der Code fotografiert – und die Produkt-Informationen erscheinen umgehend auf dem Display. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Konsequent konsumieren ist nicht leicht. Aber es wird, dank elektronischer Hilfsmittel, immer leichter. Eines davon entstand vor über zehn Jahren am Hyperwerk in Basel: Codecheck.

«Ja, wir sind Heuchler», schlossen vor zwei Wochen Marc Krebs und Philipp Loser in der TagesWoche ihren Kommentar, der seinen Anfang nahm bei der Schliessung der Buchhandlung «Nasobem». Sie gestanden: «Wir sind geizig. Und wir leben nicht konsequent. Nicht weil ein konsequentes Leben nicht möglich wäre. Sondern weil es unbequem, anstrengend, nicht lustig und sauteuer wäre.»

Satiriker und Psychoanalytiker Peter Schneider streichelte später die «Heuchler» zum Trost übers trotzige Köpfchen. Seine Einsicht: «Dass es nicht schlecht ist, wenn jeder für sich so gut ist, wie er es vermag. Dass die Forderung, individuelle Verantwortung für Zustände zu übernehmen, welche diese Verantwortung überschreiten, nicht zu einer besseren Welt, sondern lediglich zu einer gereizteren Gesellschaft führen.»

Was ist Codecheck?
Formaljuristisch ist Codecheck ein gemeinnütziger Verein in Zürich. Fünf Personen teilen sich 300 Stellenprozente, ­finanziert über Spenden, Werbung und kommerzielle Services für ­Dritte (Beratung in ­Sachen Produktetransparenz, Händlerinfos, ­Produkteinfos für ­Ernährungsprogramme, Barcode­decodierung). Userinfos werden vertraulich behandelt.Verbreitung: 1,6 Millionen Apps auf Handys installiert, grösste mobile Nutzung aus der Schweiz. 9 Millionen User pro Jahr insgesamt.
Aktivste Kategorien:
Kosmetika (jeder Inhaltsstoff wird erklärt und bewertet), Lebensmittel (Getränke und Babynahrung etc. werden viel abgerufen).
Fokus:
Produkte des täglichen ­Bedarfs. Kriterien für Informationsquellen: unabhängige Organisationen, nicht von Herstellern gesponsert. Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit sind zentral. Wo immer möglich, werden mehrere Informationsquellen für jedes Produkt genannt. Gesundheit, Umwelt und soziale Themen stehen als «Meta»-Information im Vordergrund. Wo Codecheck noch Schwierigkeiten hat, ist bei Kleidern. Ein Grund: Die Kollektionen wechseln mehrmals pro Jahr.
Geoinformation:
Diese Funktion ist noch im Aufbau. In Zukunft soll der Standort des abrufenden Handys Infos über Läden in der Nähe liefern, die ein gesuchtes Produkt anbieten.
Auszeichnungen: Prix Ars Electronica 2006 (Award of Distinction), Eidgenössischer Wettbewerb für Design 2005 (Eidgenössischer ­Förderpreis für Design), Switch Innovation Award 2004 (Förderpreis für Innovationen).
Kosten: Codecheck ist gratis.

Probe aufs Exempel

Die Frage, wo die «indi­viduelle Verantwortung» endet, bleibt allerdings unbeantwortet. Nehmen wir die ­Bequemlichkeit als Massstab. Das Gelände, wo das Leben bequem, einfach, lustig und preiswert ist, dehnt sich dank Internet laufend aus! Machen wir deshalb die Probe aufs Exempel mit ein paar willkürlich ausgewählten Produkten des täglichen Bedarfs. Das Ziel: Herausfinden, welche zum konsequent umwelt-, gesundheits- und sozialverträglichen Lebensstil passen und welche nicht.

Vor mir stehen 100 g löslicher Kaffee Jubilor Gold im Beutel. Darauf lese ich: Havelaar Fairtrade, Code 1028087. Also maxhavelaar.ch ansteuern und Code eingeben. Fehlermeldung! Den Code gibt es nicht. Schade. Erst über den Umweg der Produktesuche werde ich fündig und lese: Kooperativen in Costa Rica, Peru und Tan­sania stellen die Zutaten her. Das Geld aus der «Fairtrade-Prämie», dem ­Aufpreis, finanziert Stipendien, Schulen, Trinkwasser- und Abwasserreinigungsanlagen. Altersvorsorge und medizinische Versorgung profitieren. In Tansania werden damit Bäume gepflanzt. Okay, den Morgenkaffee trinke ich weiterhin mit gutem Gewissen. Aufwand, um das herauszufinden: Eine Internetverbindung, ein Computer und 10 Minuten Zeit. Informationsfaktor: hoch. Spassfaktor: nahe null.

Nächstes Produkt: Coop Natu­ra­plan bio Crème au chocolat, mit Max-Havelaar-Label. Auf der Verpackung finde ich keinen Fairtrade-Code. Also suche ich bei maxhavelaar.ch im Produktefinder nach Crème. Nach langem Scrollen finde ich, was vor mir steht. Die Auskunft darüber ist allerdings äusserst dürftig. Ich erfahre nicht mehr, als dass die Crème bei Coop erhältlich ist. Das weiss ich schon, denn ich habe sie ja dort gekauft. Zusätzlich ist auf der Packung die Adresse maxhavelaar.ch/mengenausgleich aufgeführt. Das bedeutet: Offenbar sind nicht alle Bestandteile der Schoggicrème fair gehandelt. Ich lese: «Diese Rohstoffe werden von Fairtrade-Bauern oder -Arbeitern ­geerntet und können bereits am Produktionsort oder während des Verarbeitungsprozesses mit Nicht-Fair-trade-Rohstoffen gemischt werden.» Havelaar beruhigt: «Dennoch haben die Konsumenten die Gewissheit, dass für das gelabelte Fairtrade-Produkt eine Fairtrade-Prämie und ggf. auch ein Mindestpreis an die zertifizierte Produzentenorganisation bezahlt wird.»

Stundenlang ratlos Etiketten studieren? Kann nicht die Lösung sein.

Okay. Die Schoggicrème bleibt auf meiner «Liste der OK-Produkte». Auch wenn ich nicht im Detail herausfinden kann, wo was zu welchen Bedingungen produziert wurde und wer wodurch von der Prämie etwas hat. Zeitaufwand: 10 Minuten. Informa­tionsfaktor: klein. Spassfaktor: nahe null.

Wie stehts mit Nutella? Die Ver­packung hält sich an die Industriestandards. Ist ja auch ein Industrieprodukt. Ein Ausflug zu Wikipedia lehrt mich das nackte Grauen über die herrlich süsse, klebrigbraune Paste. Zeitaufwand: 2 Minuten. Informa­tionsfaktor: hoch. Spassfaktor: null.

Migros bio Senf, grobkörnig. Migros führt ein eigenes Bio-Label. Auf der entsprechenden Website lese ich, warum: «Migros verfolgt traditionell eine Eigenmarkenpolitik, so auch bei Bio.» Naja. Klingt erst mal nach Ausrede. Und auf den FAQ-Eintrag «Ist Migros Bio echtes Bio?» gibt Migros, wenig erstaunlich, die Antwort: «Ja, Migros Bio ist echtes Bio» mit Referenzen auf internationale Normen, die mir leider nicht geläufig sind. Zeitaufwand: 5 Minuten. Informationsfaktor: klein. Spassfaktor: null.

Noch eines, dann geht mir die Geduld aus. Coop Eukalyptus-Bad. Ätherische Öle aus Eukalyptus, Rosmarin, Thymian und Melisse: Klingt gut, riecht gut. «Ideal in der kalten Jahreszeit». Also jetzt. Mit den Angaben unter «Ingredients» kann ich nichts anfangen. Oder wissen Sie, was «Isopropyl Palmitat» ist? Eben. Zeitaufwand: 2 Minuten. Informationsfaktor: klein. Spassfaktor: null.

So komme ich nie voran. Im Laden herumstehen und stundenlang ratlos Etiketten studieren? Danach daheim am PC Wikipedia konsultieren? Das kann ja wohl nicht die langfristige Lösung sein. Deutlich schneller geht das mit Codecheck.

Als Diplomarbeit entwickelt

2002 von Roman Bleichenbacher als Diplomarbeit am Institut «Hyperwerk» der Fachhochschule Nordwestschweiz entwickelt, ist Codecheck heute eine kuratierte, hauptsächlich vom Publikum gespiesene Wikipedia für Produktinformationen. Samt App und Bar-Code-Leser.

«2002, bevor alle Welt Wikipedia kannte, war das meine Hypothese: Dass die Community die Angaben über die Produkte selber abtippen und in eine Datenbank eingeben werde.» Seine Professoren seien damals sehr skeptisch gewesen, sagt Roman Bleichenbacher im Interview (zu hören im Player oben). Aber sie liessen ihn, zum Glück, gewähren. Und das Projekt wurde tatsächlich zum Selbstläufer. Dank eines engagierten Kernteams und einer äusserst aktiven Community. Heute hat Codecheck 9 Millionen regelmässige Benutzerinnen und Benutzer pro Jahr. Die Codecheck-App für Android- und Apple-Handys wurde 1,6 Millionen mal heruntergeladen. Die Datenbank enthält Informationen zu Hunderttausenden von Produkten und Gegenständen.

Die Handhabung, meine Herren Krebs, Loser und Schneider, könnte bequemer nicht sein! App installieren, starten, Handykamera auf den Bar-Code des Produkts richten und – pling! – die Infos erscheinen auf dem Display.

Codecheck hat neun Millionen regelmässige Benutzerinnen und Benutzer pro Jahr.

Also scanne ich erwartungsvoll den Barcode der Schoggicrème. Hoppla, Fehlanzeige. Das feine Dessert ist offenbar noch nicht drin im System. Halb so wild. Codecheck funktioniert ja nach dem Wikipedia-Prinzip. Deshalb gehe ich auf die Codecheck-Website, gebe die vielstellige Zahl unter dem Strichcode im Suchfenster ein und erhalte zur Antwort ein leeres Eingabeformular. In dieses trage ich die Angaben auf der Packung ein. Zeitaufwand etwa 5 Minuten. Abspeichern.

Danach zücke ich nochmals das Handy und scanne den Barcode. Et voilà! Codecheck antwortet mit den Informationen, die ich grade vorhin eingetragen habe. Wer immer jetzt nach mir die Schoggicrème scannt, erhält die Infos. Und kann sie, wenn ich mich vertippt haben sollte, gleich auch korrigieren. Oder ergänzen. Oder kommentieren. Zeitaufwand: 10 Minuten. Informationsfaktor: hoch. Spassfaktor: sehr hoch! Codecheck sagt mir via Handy­display auch gleich, was die Labels «Bio Knospe» und «Max Havelaar» bedeuten. Und welche weiteren Organisationen sie wie bewerten. Demnach hier: Alles im grünen Bereich!

Weiter zum Eukalyptus-Bad. Nach dem Bar-Code-Scan erfahre ich, dass zwei Inhaltsstoffe «nicht empfehlenswert» seien. Paraffin, «meist aus billigem Erdöl hergestellt», verstopft die Hautporen. Und Ci 61565 ist einer jener grünen Azo-Farbstoffe, von denen sich «einige im Tierversuch als krebserzeugend erwiesen haben». Wozu kippt Coop überhaupt künstliches «Grün» in ein Eukalyptus-Bad? Das Ding habe ich zum letzten Mal gekauft! Danke!

«Scannen» ist das neue «Wissen»

Und der Migros bio Senf? «Scannen» ist das neue «Wissen»! Ich sehe: Referenz-Organisationen, denen ich auch sonst ein kritisches Bewusstsein zutraue, finden das «Engagement Bio» der Migros sehr in Ordnung. Der Senf bleibt im Einkaufskorb.

Mit Codecheck, der Produkte-Wikipedia auf dem Handy, wird das konsequente Konsumieren ein gutes Stück «bequemer, einfacher, lustiger und preiswerter». Und die sich augenzwinkernd selbst so bezeichnenden «Heuchler» haben damit eine faule Ausrede weniger.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 24.05.13

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