Für die Briten ist es das Wichtigste Tennis-Spiel seit 76 Jahren. So lange ist es her, dass ein Brite im Wimbledon-Final gespielt hat. Es ist eine riesige Last, die auf den Schultern von Andy Murray liegt (ab 15 Uhr MESZ). Aber auch sein Widersacher Roger Federer steht vor einem weiteren Eintrag ins Tennis-Geschichtsbuch.
«Das ist es. 74 Jahre des Leidens sind endlich vorbei.» So begann im «Daily Telegraph» der Kommentar über den Halbfinalsieg von Andy Murray gegen Jo-Wilfried Tsonga, «um zu demonstrieren, welch historischer Moment es war, hatte sogar die Sonne einen Auftritt über dem Centre Court. Während der grösste Teil der Bevölkerung an den TV-Geräten zuschaute und der Himmel gleichzeitig ausschüttete, was im Normalfall in einem Monat an Regen fällt, kam hier der einzige Niederschlag von Murrays Siegertränen.»
Auch in praktisch allen anderen Gazetten wurde der Sieg Murrays ausgiebig gewürdigt, auf der Frontseite und in mehreren anderen Artikeln. Überall wurde die historische Dimension betont, dass erstmals seit 1938 und Henry «Bunny» Austin wieder ein Einheimischer um die begehrteste Trophäe im Welttennis spielen darf.
Die Mehrheit der Fans, die heute einen der begehrten Centre-Court-Plätze belegen wird, war bei der letzten Finalteilnahme eines der Ihrigen noch gar nicht geboren. Der letzte Sieg eines Briten liegt sogar noch zwei Jahre länger zurück: 1936 war es, als Fred Perry seinen dritten Wimbledon-Sieg in Serie feierte. Es war zu gleich für ihn und Grossbritannien der letzte Triumph am wichtigsten Turnier der Welt.
Ein riesiger Druck lastet auf Murray
Murray tut gut daran, die Emotionen heute unter Kontrolle zu haben, wird diese Partie doch mit nichts zu vergleichen sein, was er bisher erlebt hat. Er spielt nicht nur unter monumentalem Druck sondern auch gegen Roger Federer, den König von Wimbledon und besten Spieler der Geschichte. Der Schotte weiss um die Schwierigkeit der letzten Aufgabe: «Ich werde mich so normal wie möglich vorbereiten, aber natürlich werde ich nervös sein. Ich muss einen perfekten Match spielen, um zu gewinnen.»
Der Erfahrungsvorsprung spricht eine deutliche Sprache zugunsten Federers. Er hat 20 Major-Endspiele mehr bestritten und den wichtigsten Tennis-Match des Jahres, den Wimbledon-Final, schon sieben Mal mehr als der Schotte.
Federer kann Sampras ein- und überholen
Der Druck, das ist klar, wird auch auf Federers Seite sehr gross sein. Für den Baselbieter geht es darum, eine zweieinhalbjährige Phase ohne Major-Titel zu beenden. Und schliesslich lockt die Rückeroberung der Weltnummer 1 nach 25 Monaten.
Das wiederum würde bedeuten, dass er mit dem US-Amerikaner Pete Sampras gleichziehen würde, der insgesamt 286 Wochen an der Spitze der Weltrangliste gestanden war. Eine Woche darauf wäre Federer der alleinige Rekordhalter in dieser Kategorie.
Das Ganze wird abgerundet durch die Möglichkeit, gegen Murray zu spielen. Schon vor dem Ausgang der Partie gegen Tsonga hoffte er auf einen Sieg von Murray: «Ich mag Jo-Wilfried sehr, aber ich hoffe auf einen Sieg von Murray. In allen Ländern, in denen ich bin, spiele ich gerne gegen den lokalen Helden, wie ich sie nenne und Andy ist hier in Wimbledon genau das.»
Für einmal nicht der Publikumsliebling
Natürlich wird das Publikum für einmal nicht hinter Roger Federer sondern hinter ihrem «local hero» stehen. Aber die in Wimbledon enorm fachkundigen Fans werden dennoch für eine würdige Atmosphäre sorgen.
Dass Federer auch gegen enorm parteiische Supporter bestehen kann, zeigte sich im US-Open-Final 2005, als er Andre Agassi bezwang, obwohl das Publikum die Grenze zur Unsportlichkeit mehrmals überschritt. Seine Major-Bilanz gegen Einheimische gibt jedenfalls weiteren Grund zu Optimismus: Sie steht bei 25 Siegen und 2 Niederlagen.