«Filmemachen ist eine Übung in Präsenz»

Regisseurin Petra Volpe erzählt über ihren Film «Traumland», Prostitution, Liebe und ihre Erfahrung als Sex-Telefonistin. Frau Volpe, wie lange haben Sie an «Traumland» gearbeitet? Die Recherche zu «Traumland» begann schon in meiner Studienzeit. Später habe ich noch einmal fünf Jahre an meinem Film gearbeitet. Das ist eine lange Strecke. Die legt man nicht zurück, wenn […]

«Ich liebe die Hingabe, die diese Arbeit fordert»: Petra Volpe.

Regisseurin Petra Volpe erzählt über ihren Film «Traumland», Prostitution, Liebe und ihre Erfahrung als Sex-Telefonistin.

Frau Volpe, wie lange haben Sie an «Traumland» gearbeitet?

Die Recherche zu «Traumland» begann schon in meiner Studienzeit. Später habe ich noch einmal fünf Jahre an meinem Film gearbeitet. Das ist eine lange Strecke. Die legt man nicht zurück, wenn es nicht eine Herzensangelegenheit ist.

Wann fiel der Entscheid, einen Film zu machen?

Die Resultate hätten für zehn Filme gereicht. Männer neigen zum Beispiel dazu, einen Besuch bei einer Prostituierten nicht als Betrug zu sehen: Sie trennen das. Aber wovon? Das allein ist schon ein Thema. Diese Abspaltung funktioniert aber nicht immer und bei allen. Ich habe da viel beim «Freiertelefon» erfahren. Bei manchen Männern führt das zu Neurosen.

Sie weisen im Film darauf hin: «Die Prostituierten sind die Opfer auf dem Altar der Monogamie».

Wenn Monogamie ein kulturelles Diktat ist und als «natürliche» Lebensform propagiert wird, dann kann es ein Gefängnis sein – für Männer und Frauen. Wie viel wird gelogen und betrogen und wie viele Familien fallen auseinander wegen Sex. Wir sind sexuelle Wesen, unsere Natur ist darauf ausgerichtet, sinnlich in der Welt zu sein, neugierig und begehrend, und wir wollen begehrt werden. Unsere Kultur erzieht uns auch dahin, dass Männer davon mehr wollen und brauchen als Frauen. Ich glaube das jedoch nicht.

«Ich habe als Studentin auch beim Sex-Telefon gearbeitet und da einiges davon erfahren.»

Sie heben in ihrem Film die Anonymität zur Prostituierten auf. Was hat sie dazu bewegt?

Der Gang zu einer Prostituierten ist die Verneinung der Komplexizität. Der Freier bezahlt, die Frau muss machen, was er will. Wenn die Interaktion jedoch nicht mit Geld geregelt ist, dann kann es sehr fragil werden – die Situation birgt die Gefahr von Zurückweisung, Scheitern, Verletzung etc. Sex ist komplex. Freier versuchen dieser Grösse auszuweichen, wenn sie Sex kaufen. Ich habe als Studentin auch beim Sex-Telefon gearbeitet und da einiges davon erfahren.

Ach. Als Beraterin?

Nein. Beim Sex-Telefon.

Ich verstehe, wo Männer Beratung…

Service wollen…

Sie brauchten das Geld?

Ich war Kunststudentin. Mit 24. Es sollte erst ein Kunstprojekt werden, das dann aber nie zustande kam. Aber einiges davon ist in «Traumland» eingeflossen.

Was wollten die Männer?

Mir ist aufgefallen, dass sie sich sehr einfache Dinge wünschten. Sie reden aber darüber offenbar nicht mit ihren Frauen. Da das Gespräch völlig anonym war – ich hörte ja nur eine Stimme –, haben die Kunden viel von sich erzählt. Es waren oft Männer mit Partnerinnen. Aus gebildeten Kreisen. In deren Ehe funktionierte der Dialog nicht. Da wird vieles nicht ausgesprochen…

Gibt es immer mehr Frauen, die Sex verkaufen? Oder mehr Männer, die sich das leisten können? Wird unser Leben immer mehr zu einem Markt?

Dieser Markt ist ein Ausdruck von ökonomischem Ungleichgewicht und von der fehlenden Gleichberechtigung. Die Rotlichtwelt hält uns einen Spiegel vor und zeigt uns viel über die Machtverhältnisse in der Gesellschaft. In «Traumland» geht es mir darum, zu betrachten, wie die Mächtigen mit den Menschen umgehen, die in der sozialen Hierarchie ganz unten sind, und was das über sie erzählt.

«Wenn Verdrängtes an die Oberfläche kommt, ist das vielleicht nicht so angenehm und auch nicht angenehm anzuschauen.»

In der Komfortzone gehört es doch zum Alltag, dass man sich aufbrezelt, erotisch aufpeppt, begehrenswert darstellt, erotisiert. Der käufliche Sex gehört beinahe schon zum Wellness-Angebot. In Schweden nennt man es Ganzkörpermassage mit «Happy Ending».  

Es ist vielleicht eine materielle Komfortzone, aber Menschen geraten in emotionale Not, wenn ihre Sehnsüchte nicht erfüllt werden. Sie verdrängen psychischen Schmerz. Das fällt nicht auf den ersten Blick auf. Emotionen werden unterdrückt. Gefühle haben aber die Eigenschaft, an den Tag zu wollen. Und wenn all das Verdrängte an die Oberfläche kommt, ist das vielleicht nicht so angenehm und auch nicht angenehm anzuschauen.

Dennoch packen Sie das in Ihrem Film an?

In «Traumland» versucht Rolf, seinen Schmerz über die verlorene Familie mit Besuchen bei Mia zu betäuben. Er versucht, ein netter Freier zu sein. Lena verdurstet. Ihr fehlt die Nähe. Sie vermisst das Begehren ihres Mannes. Judith leidet unter den Anforderungen ihres Berufes.

Diese Figuren halten Widersprüche aus. Rolf ist ein «netter Freier». Geht das? Ist bezahlter Sex nicht  für beide Seiten unwürdig?

Ich bin auf der Suche nach dem Universellen, und dazu gehört für mich die Widersprüchlichkeit des Menschen – z.B. nette Feinde zu sein. Es gut zu meinen und das Böse zu schaffen. Ambivalenz. Das ist am schwersten zu fassen: Mein nächstes Projekt spielt zur Zeit der Einführung des Frauenstimmrechtes in der Schweiz. Eine Komödie. Ich suche auch da nach etwas Wahrhaftigem. Die Wahrhaftigkeit ist voller Widersprüchlichkeiten. Das reizt mich. In der Komödienform werden Gefühle auch unterdrückt. Aber das erleben wir lustvoll. In der Schweiz wird ja nicht alles gefühlsmässig unterdrückt. Aber wir verlieren unsere Stärke: die Empathie.

Das Solothurner Publikum wählte mit «L’Escale» und die Jury mit «Neuland» zwei sehr empathische Filme.

Es ist dennoch dasselbe Thema. In diesem reichen Land geht die Empathie verloren. Solange wir uns nicht mit unseren Gefühlen konfrontieren, zahlt jemand anderes dafür.

«Traumland» hat eine erstaunliche Frische bewahrt. Das ist für einen subventionierten Film schon fast ausserordentlich. Welche Gremien muss eigentlich ein Schweizer Film durchlaufen, bis er auf der Leinwand zu sehen ist?

Die erste Hürde ist die Drehbuchförderung. Das ist eine erste Prüfung. Man muss mit seinen Vorstellungen dieses erste Gremium erreichen. Ich habe versucht, mir mit dem Stoff alle Freiheiten zu lassen. Ich bin in den Recherchen meiner Neugier gefolgt, erstmal ohne These. Ausserdem habe ich keine Angst, etwas herauszufinden, was ich nicht hatte wissen wollen.

Diese Recherche ist finanziert?

Selbst wenn man Geld für die Drehbuchentwicklung bekommt, reicht es niemals, um lange zu recherchieren und dann vier Jahre zu schreiben. Aber manchmal braucht ein Stoff halt seine Zeit, um zu wachsen.

Jetzt fängt also die Arbeit an dem eigentlichen Drehbuch an – wofür Sie ja auch eine Nomination für den Schweizer Filmpreis erhalten haben.

Ein gutes Drehbuch ist wie ein Kind: Es braucht ein ganzes Dorf! Ich rede mit meinen Freunden exzessiv über mein Drehbuch, mit meiner Mutter, meinen Freundinnen, meinem Produzenten. Erst dann kommt der zweite Schritt, das Entwicklungsprogramm der «Equinox», eine europäische Drehbuchschmiede, in dem europaweit nur zehn Kandidaten zugelassen sind. Dann kommt die Herstellungsfinanzierung.

«Die Schauspieler standen schon fest. Das Team war gebucht. Aber der Bund sagte Nein. Zweimal.»

Das heisst zum Beispiel, das Schweizer Fernsehen stellt als Produzent Geld zur Verfügung.

Das war der Fall. Die Schauspieler standen schon fest. Das Team war gebucht. Aber der Bund sagte Nein. Zweimal.

Zweimal?

Aufgrund des Drehbuches. Niederschmetternd. Das lähmt alle. Der Film schien am Ende.

Bereut man dann nicht, kompromisslos gewesen zu sein?

Ich wollte ja ohnehin noch weiter entwickeln. Die Ablehnung bot aber keine Anhaltspunkte. Sie war unpräzise. Also konnte ich nur weiter allem treu bleiben, was ich wollte. Erschwerend kam dazu, dass beim zweiten Anlauf ein zum Teil neu besetztes Gremium des BKA das Projekt beurteilte.

Warum haben Sie nicht aufgegeben?

Herzensangelegenheiten lässt man nicht liegen. Zudem kam eine Zusage aus Zürich. Meine Produzenten haben nie aufgegeben. Wir haben das Budget gekürzt und mussten in jeder Beziehung sehr kreative Lösungen finden. Das Team hat den Kunstschnee in Berlin bei jeder Kameraeinstellung im Frame neu verteilt.

«‹Ich möchte als Mensch gesehen werden›: Dieser Satz hat mich stets begleitet.»

Wie oft wollten Sie aufgeben?

Kämpfen macht mich eher kreativ und spornt mich an. Eine der Prostituierten hat mir in der Recherche ans Herz gelegt, was mich in der Folge immer angetrieben hat. Ich fragte sie, was ihr wichtig sei: «Ich möchte als Mensch gesehen werden.» Dieser Satz hat mich stets begleitet.

Angenommen, Sie könnten über ein unbeschränktes Budget verfügen. Was würde das für Sie bedeuten?

Reto Schaerli, mein Produzent, öffnet mir eine solche Perspektive, aber nicht mit Geld. Sondern im Kopf. Man muss ja im Kopf frei sein. Er hat mich ausgefragt. Es gibt unzählige Dinge, die mir dringlich sind. Aber was ist mir so wichtig, dass ich mich für fünf Jahre meines Lebens in diesen Knochen verbeissen will?

Welches Team würden Sie zusammenstellen?

Ich hatte das beste Team, das man sich nur wünschen kann. Ich habe mit Menschen gearbeitet, die viel erfahrener und besser sind als ich. Aber man muss sich dieser Angst, es nicht immer zu wissen, auch aussetzen können als Regisseurin. Ich habe oft recht einfach gestrickte Versagensträume während des Drehs: Ich komme am Morgen aufs Set und weiss nicht, was gedreht wird und mit wem, aber alle anderen wissen, worum es geht. Ich versuche es rauszufinden, ohne dass man mir das anmerkt. Und der Wind weht mir noch den letzten Halt, die Drehbuchblätter, weg…

Warum haben nur wenige Filme in der Schweiz diese Dringlichkeit?

Manche Filme wollen nicht dringlich sein, sondern gut unterhalten, die Menschen amüsieren, sie aus ihrem Alltag entführen – auch wichtig. Mich interessiert aber einfach was anderes. Wenn man darüber nachdenken will, warum das Schweizer Filmschaffen im fiktionalen Bereicht international ziemlich unbedeutend ist – das ist eine komplexere Geschichte und hat viele Faktoren. Ich liebe die Hingabe, die diese Arbeit fordert. Die Präsenz. Filmemachen ist vor allem eine Übung in Präsenz. Das ist für mich das Schönste. Das Schwierigste. Die Gegenwart. Das Dasein zu reflektieren, zu befragen und zu erforschen.

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